»Ich weiß aber nicht, wie«, entgegne ich leise.
Sie nickt und beugt sich über den Tisch vor.
»Keiner von uns weiß das genau. Aber so wirst du es bestimmt nicht herausfinden.«
Judettes Stimme klingt sanft, so sanft, dass sie all meine Gefühle an die Oberfläche lockt. Aber ich will nicht schon wieder losheulen. Ich bin es so leid, es andauernd zu tun.
Ich räuspere mich, um den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
»Wo ist eigentlich Stina?«
»Sie macht einen Hausbesuch.«
Ich erkenne am Tonfall, was Judette damit meint. Schon wieder ein Selbstmord. Stina kümmert sich um die Angehörigen derjenigen, die das Warten auf den Kometen nicht mehr aushalten. Manche nehmen es lieber selbst in die Hand und bringen es hinter sich. Am Anfang konnte ich es überhaupt nicht nachvollziehen, weil es mir so widersprüchlich erschien, sich das Leben zu nehmen, um der Angst vorm Sterben zu entgehen. Doch inzwischen glaube ich, es nur allzu gut zu verstehen. Allerdings nur manchmal, und ich kann mir nicht vorstellen, mir selbst etwas anzutun.
Dessen bin ich mir ziemlich sicher.
»Und wann ist sie losgefahren?«
»Gegen halb elf. Ich habe ihr nicht gesagt, dass du noch nicht zu Hause warst, falls du das wissen willst.«
»Danke.«
»Aber ehrlich gesagt eher ihr zuliebe, nicht deinetwegen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht. Aber morgen werde ich es ihr sagen.«
»Na super.«
Judettes Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
»Aber ich werde mich bessern«, sage ich rasch. »Versprochen.«
Judette entgegnet nichts, sodass meine Worte in der Luft hängen bleiben und wie leere Worthülsen klingen.
»Ich springe kurz unter die Dusche, bevor ich zur Arbeit fahre«, sagt Judette und reibt sich die müden Augen.
»Warum duschst du eigentlich vorher?«
Judette hat den Beruf der Floristin freiwillig gegen den einer Müllfrau ausgetauscht. Der Komet hat sie sozusagen auf die entgegengesetzte Seite der Duftskala katapultiert.
»Um irgendwie wach zu werden«, antwortet sie. »Mein Gott, lass es bitte bald Montag sein, damit wir endlich eine neue Ration Kaffee bekommen.«
Sie streckt ihren Rücken durch und steht vom Stuhl auf. Bumbum hebt erwartungsvoll den Kopf, doch sie tätschelt ihm nur zerstreut das Fell und verlässt dann die Küche.
»Stell dir den Wecker«, ruft sie. »Du musst früh mit ihm Gassi gehen.«
NAME: LUCINDA TELLUS# 0 392 811 002 POST 0005
Gegen zehn Uhr bin ich vom Müllwagen geweckt worden. Mirandas Knie hatten sich in meinen Rücken gebohrt und sie schnarchte um einiges lauter, als es bei ihrem zierlichen Körper rein physisch möglich sein dürfte. Als mein Vater kurz darauf nach Hause kam, gab ich den Versuch auf, wieder einzuschlafen, und ich stand auf, um gemeinsam mit ihm zu frühstücken.
Er war so übermüdet, dass ich erahnen konnte, wie er als alter Mann einmal aussehen würde. Und er ähnelte meinem Opa mehr denn je.
Er fragte mich, wie es mir ginge, und ich antwortete: »Ganz okay, ich hab ja nur ’n bisschen Krebs«, woraufhin er entgegnete: »Du tust aber auch wirklich alles, um nach Aufmerksamkeit zu heischen.« Früher haben wir nicht so miteinander geredet, aber seit meiner Diagnose haben wir es uns angewöhnt. Nur so gelingt es uns, damit umzugehen.
Ich erzählte meinem Vater von Mirandas Fragen zum Kometen, verschwieg dabei aber meine eigenen Ängste. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Was sollte er auch dagegen tun? Er hätte sich nur wieder Sorgen um mich gemacht, was er sowieso schon zur Genüge tat. Ich hatte uns Haferbrei gekocht und gemerkt, wie er sich darüber freute, als ich mir noch etwas nachnahm.
Danach schauten wir gemeinsam die Morgennachrichten. Auf allen Marktplätzen landesweit und in den Stadtparks, in denen das Fußballspiel übertragen worden war, hatte Chaos geherrscht, und mein Vater berichtete mir von seiner Nacht in der Notaufnahme. Er hatte diverse Wunden nähen, mehrere Schädelknochen röntgen und unzählige Mägen auspumpen müssen.
Schlägereien. Vergewaltigungen. Überdosen Kokain. Fahrlässige Tötungen. Vandalismus. Es war fast genauso schlimm wie an dem Tag, als wir vom Kometen erfahren hatten und die Leute regelrecht ausgerastet waren. Wenn es mir schon schwerfällt, mich an das Gute in der Welt zu erinnern, muss es meinem Vater noch weitaus schwerer fallen. Als Arzt bekommt er unweigerlich die Folgen instinktiven und impulsiven menschlichen Fehlverhaltens zu sehen. (Andererseits denke ich, dass mein Vater ein besserer Mensch ist als ich, denn er glaubt an das Gute im Menschen, solange sie ihm nicht das Gegenteil beweisen. Manchmal denke ich, dass es bei mir genau andersherum ist.)
Alle haben jetzt die letzte Gelegenheit, ihre heimlichen Neigungen auszuleben. Nach dem Motto Nutze den Tag. Das Risiko, verhaftet oder zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist minimal. Dafür stehen nicht mehr genügend Polizeibeamte zur Verfügung. Außerdem bleibt keine Zeit mehr für Ermittlungen oder Gerichtsprozesse, ganz zu schweigen von Gefängnisstrafen.
Auch im Krankenhaus arbeitet nicht mehr genügend Personal, sodass es keine Langzeitbehandlungen mehr gibt. Mein Vater geht dennoch hin. Er hält es für nötig, weil so viele Ärzte gebraucht werden. Aber ich glaube, dass er es auch für sich tut. Es ist seine Art von Flucht, um bei sich selbst zu sein, obwohl die Welt um ihn herum eine andere geworden ist. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich dasselbe getan.
Ich habe das dringende Bedürfnis, das Haus zu verlassen. Vielleicht sollte ich einen Spaziergang hinunter zum See machen. Wenn ich die Abkürzung durch den Wald nehme, werde ich schon niemandem begegnen.
Ich schreibe später weiter.
SIMON
Die Luft ist warm und feucht und es ist absolut windstill, als ich über die sanften Hügel am hinteren Ufer des Sees jogge. An mir rinnt der Schweiß nur so herab und Bumbum schenkt mir ein breites Hundelächeln, offensichtlich glücklich darüber, ausnahmsweise mal nicht angeleint zu sein. Ab und an bleibt er stehen und schnuppert an einem Busch oder einem interessanten Fleckchen Gras. Dabei ragt seine weiße Rute wie ein Wimpel steil in die Luft.
Dort, wo der Wald zu beiden Seiten des Wegs wieder dichter wird, ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Noch immer keine Antwort von Tilda. Ich nehme mir fest vor, erst wieder nachzuschauen, wenn ich zu Hause bin.
Aber ich habe es nicht besonders eilig, zurückzukehren. Stina war so sauer auf mich, dass sie anfing zu weinen.
Ich laufe schneller, obwohl der Kater in meinem Körper wütet und es sich anfühlt, als würde mein Herz jeden Moment zerreißen. Die Musik dröhnt aus meinen Kopfhörern. Ich bewege meine Arme dicht am Oberkörper vor und zurück, während ich auf den Untergrund aus Holzspänen und Rindenhäcksel schaue.
Bald ist alles weg, hatte Tilda am Morgen gesagt, als wir von dem Kometen erfahren hatten.
Der Waldboden unter meinen Füßen. Der See. Die Birken am Ufer. Und Bumbum.
Auf einmal überkommt mich ein Schwindel, der mich völlig aus dem Rhythmus bringt, doch ich zwinge mich weiterzulaufen. Jetzt erblicke ich die alte Wasserrutsche zwischen den Bäumen, die früher einmal türkis war. Inzwischen ist sie ausgeblichen und farblos. Das Schwimmbecken ist abgedeckt. Der Kiosk verrammelt. Und auch die Minigolfanlage wurde schon lange nicht mehr benutzt. Auf dem letzten Stück beschleunige ich noch einmal und kurz darauf erreiche ich den Strand, wo ich heftig keuchend und mit Blutgeschmack im Mund die Hände auf die Knie stütze.