Descartes sah mit großer Freude in seiner Abgeschiedenheit dem Wachsen seines Ruhmes zu. Endlich bekam seine Philosophie die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Doch zu viel Aufmerksamkeit war in Zeiten, wo Andersgläubige von der Kirche und von Staats wegen verfolgt wurden, nicht ungefährlich. Dem ständigen Ränkespiel scholastischer Professoren war es gelungen, Descartes in Utrecht vors Gericht zu bringen. Die Anklage lautete: Atheismus. Ein seltsamer Vorwurf gegenüber einem Philosophen, der in guter scholastischer Tradition einen Gottesbeweis geschrieben hatte. Zur damaligen Zeit galt aber bereits derjenige als ein Atheist, der nicht das offizielle Gottesbild der Kirche vertrat. Glücklicherweise stellten sich Descartes Ankläger so ungeschickt an, dass sich der Philosoph aus der Zwangslage winden konnte.
Die Angriffe auf Descartes Philosophie nahmen weiter an Heftigkeit zu. Treue Anhänger wie Regius fielen von seiner Lehre ab und schrieben verbitterte Pamphlete gegen den ehemaligen Meister. Mit Mathematikern wie Fermat (1601–1675) und Roberval (1602–1675) hatte sich Descartes zerstritten, von Thomas Hobbes, der ihn bewunderte, hielt er nichts (»Hören Sie mir bloß mit dem Engländer auf«, rief Descartes, wenn jemand dessen Namen erwähnte), dem jüngeren Pascal warf er geistigen Diebstahl vor, Descartes Familie verachtete ihn, weil er als Adliger ein Bücherschreiber war (»Ein ernst zu nehmender Mensch klemmt sich nicht in Kalbslederhaut«, hatte der Vater geäußert). Als 1647 Mydorge und dann am 1. September 1648 Mersenne, die Schaltstelle zwischen ihm und dem gelehrten Frankreich, starb und sich die konservativen Professoren neue Anklagen gegen Descartes ausdachten, entschied sich der Philosoph dafür, Holland zu verlassen. Er nahm eine Einladung von Christine, der Königin von Schweden, an und reiste am 1. September 1649 mit dem Schiff nach Stockholm, wo er hoffte, unbehelligt philosophieren zu können.
Die Monarchin war eine Bewunderin von Descartes. Sie stand schon lange im Briefwechsel mit ihm und der Philosoph hatte als Antwort auf eine ihrer Fragen, was denn die beste Liebe sei und was den einen Menschen zum anderen hinzöge, die Schrift »Die Leidenschaften der Seele« (1649) verfasst. Christine, die unlängst den Dreißigjährigen Krieg mit ihrer Unterschrift beendet hatte, war begierig darauf, Descartes Schülerin zu werden.
Am Königinnenhof angekommen, erfuhr Descartes, dass die Monarchin um 5 Uhr morgens unterrichtet werden wollte, weil sie wegen der augenblicklichen Staatsgeschäfte nur direkt nach dem Aufstehen etwas Zeit erübrigen konnte. Insgesamt hatte der Philosoph die Königin aber nur dreimal gesehen, denn bereits die ersten Kutschfahrten durch die eisige Morgenluft Schwedens machten Descartes so sehr zu schaffen, dass er sich eine Lungenentzündung zuzog und am 11. Februar 1650 im Alter von 53 Jahren starb.
Descartes Denken
Descartes Absicht war es, sämtlichen Wissenschaften ein neues, unerschütterliches Fundament zu geben. Das rasch anwachsende Wissen im 17. Jahrhundert über Medizin, Astronomie oder Optik, das durch die Entwicklung von Geräten wie dem Fernrohr oder dem Mikroskop schnell voranschritt, machte es immer schwerer, die mannigfachen Beobachtungen in das alte scholastische System des Mittelalters einzuordnen, das immer noch auf Aristoteles beruhte. Zuerst Albertus Magnus (1193–1280) und dann Thomas von Aquin (1225–1274) hatten den antiken Denker für sich entdeckt. Sie verschmolzen die Philosophie Aristoteles mit der Theologie (und auf diesem Wege mit den Machtansprüchen der Kirche). Im Ergebnis bedeutete das für viele Jahrhunderte bis zu Descartes Zeiten, dass jede wissenschaftliche Untersuchung mit den Grundüberzeugungen des Aristoteles übereinstimmen musste. Immer mehr Erkenntnisse deckten sich nicht mehr mit den scholastischen Annahmen. Was fehlte, war ein neues System, welches das alte endlich ablösen konnte. Das Wissen selbst sollte auf einer neuen Philosophie beruhen, die die Rahmenbedingungen für ein zuverlässiges Wissenschaftsgebäude liefert. Nach Möglichkeit sollte die neue Philosophie auch die Fragen, wie der Mensch erkennt und ob er das, was er erkennt, tatsächlich mit Gewissheit erkennt, aus wenigen unbezweifelbaren Prinzipien ableiten. Aber welche Prinzipien sind das, und wie kann man sie auffinden?
Die Grundannahme allein, dass man sämtliche wissenschaftlichen Kenntnisse auf die Gewissheit einiger weniger Prinzipien beruhen lassen kann (vergleichbar der Mathematik, die sich auf wenige unbezweifelbare Axiome gründet, deren Richtigkeit allen anderen mathematischen Lehrsätzen Gewissheit gibt), war ein völlig neuer Ansatz, der sich von der Scholastik scharf unterschied. Denn Descartes geht im Gegensatz zur aristotelisch-scholastischen Philosophie davon aus, dass sämtliche Teilgebiete des Wissens eine Einheit bilden, was Descartes im Bild eines Baumes ausdrückt, dessen mannigfache Äste alle zum selben Stamm führen und dieser Stamm wiederum von derselben Wurzel genährt wird. Die mittelalterliche Scholastik hatte die Unabhängigkeit der Einzeldisziplinen betont, mit dem Argument, dass es doch einen Unterschied mache, ob jemand Pflanzenkunde, Musikwissenschaft oder Mathematik betreibt. Descartes setzt das Argument dagegen, dass das menschliche Bewusstsein die Einheit des Wissens schafft. Im Bewusstsein des Menschen, in seinem Vermögen die Welt zu begreifen und vor allen Dingen, das Richtige vom Falschen unterscheiden zu können, liegt das Verbindende unüberschaubar vieler Einzelwissenschaften. Genauer ausgedrückt konstatiert Descartes, dass die Vernunft immer die gleiche und richtige Methode anwenden muss, um in egal welcher Disziplin erfolgreich zu sein. Wichtigste Aufgabe einer neuen Philosophie ist es also, die Vernunft mit den Regeln des Denkens vertraut zu machen und sie mit einer Methode zu versorgen, die sie anleitet, diese Regeln richtig anzuwenden. Falsches Denken ist regelloses Denken oder beinhaltet die Anwendung der falschen Regel zum falschen Zeitpunkt. Richtig denkt derjenige, der fähig ist, die Methode des Regelgebrauchs sachgerecht zu benutzen, der weiß, wann, wie und welche Regeln auf ein bestimmtes Problem bezogen werden müssen. Der Vernunft bleibt am Ende nichts anderes zu tun übrig, als diese Methode des richtigen Denkens auf die Einzelwissenschaften zu applizieren. Dabei gilt es zunächst zwischen den unerschütterlichen Prinzipien zu unterscheiden, die einer Wissenschaft unterlegt sind, und der Methode, mit der man innerhalb einer Wissenschaft arbeitet.
Descartes beginnt damit vier einfache Regeln aufzustellen, die er methodisch für grundlegend hält. Sie lauten: 1) Nichts als wahr zuzulassen, was nicht absolut einleuchtend ist; 2) Alle Probleme, in kleinere Teilprobleme zu zerlegen; 3) Immer gemäß einer Ordnung vorzugehen und vom Einfachen zum Schwierigen zu schreiten; 4) In der Reihenfolge des Fortschreitens nichts auszulassen.
Dies sind also die Grundprinzipien, die man immer zu beachten hat. Doch reicht es natürlich nicht aus, sie zu kennen, man muss ihre Anwendung üben, man muss sich damit vertraut machen, wann und wie die Regeln im Einzelfall angewendet werden können. Durch sie soll die Vernunft in die Lage versetzt werden, wissenschaftlich zu arbeiten. Es sind Regeln, die für alle Wissenschaftszweige gleich sind. Die Mathematik ist nach Ansicht von Descartes ein gutes Gebiet, sich an sie zu gewöhnen, genauer gesagt, ihren Gebrauch zu trainieren, auch deswegen weil sie im Vergleich zur empirischen Welt »abstrakte« und »ideale« Gegenstände beinhaltet.
Descartes Verhältnis zur Mathematik ist allerdings nicht eindeutig: Er trieb viele Jahre mathematische Studien, gab diese dann aber mit der Begründung auf, dass sie nicht die wirkliche Grundlagenwissenschaft sei, die er gesucht habe. Trotzdem orientiert er sich an der Mathematik und schätzt ihren Wert für die Vernunft. Seine Beweisführungen lehnt er an diejenigen der Mathematik an und nimmt sein Wahrheits- und Gewissheitsverständnis aus der Mathematik.
Descartes Wahrheitsbegriff ist zum Verständnis seiner Philosophie sehr wichtig. In der eben zitierten ersten Regel fordert Descartes, nichts als wahr anzuerkennen, was nicht absolut einleuchtend, bzw. evident ist. Man könnte leicht kritisieren, dass Descartes in der ersten Regel, in der er »wahr« und »evident« gleichsetzt, unscharfe Begriffe verwendet. Selbst seine weitere Präzisierung, dass evident sei, was jemand »klar und deutlich« (»clair et distinct«) wahrnimmt, trägt nicht weit. Viele Dinge, die auf den ersten Blick einleuchten, entpuppten sich beim näheren Hinsehen als falsch. Aber wenn Descartes von einer evidenten, also einleuchtenden Sache spricht, hat er dabei die Gewissheit der Mathematik