Da ist vor allem der große Block des sogenannten selbständigen Mittelstandes. Diese Millionen von Handwerkern, Gewerbetreibenden und Kleinkaufleuten führen seit der nach 1871 einsetzenden großindustriellen Entwicklung einen verzweifelten Kampf um ihre Existenz. Es fehlt ihnen an wirtschaftlicher Einsicht. Darum fallen sie auf jeden Schwätzer herein, der ihnen die Wiederherstellung des »goldenen Bodens« durch Kampf gegen Juden und Warenhäuser, gegen Börse und Gewerbefreiheit verspricht. […]
Das ist das erschütternd Trostlose an dem Wahlergebnis vom 14. September, daß die Welt sehen muß, wieviel Millionen politische Analphabeten es noch in Deutschland gibt.
Welt am Montag, 6. Oktober 1930
1931 gründete er, inzwischen aus der DDP ausgeschieden, die Radikaldemokratische Partei. Im folgenden Jahr wurde er Chefredakteur der Wochenschrift »Die Weltbühne«, begab sich aber schon 1933 ins Exil nach Österreich und von dort nach Paris, wo die französische Liga für Menschenrechte dem Vorsitzenden der deutschen Liga für Menschenrechte (das war er seit 1926) Aufnahme anbot. In Paris, wohin er noch manche Flüchtlinge vor den Nationalsozialisten gerettet hatte, starb Hellmut von Gerlach im August 1935.
Quellen und Literatur: Hellmut von Gerlach: Das Parlament. Frankfurt 1908; ders.: Die große Zeit d. Lüge. Charlottenburg 1926; ders.: Von rechts nach links. Hrsg. Von Emil Ludwig, Zürich (posthum erschienene Autobiographie) 1937; Adrien Robinet de Cléry: Gerlach, Helmut Georg von. In: NDB 6 (1964), S. 301f.; Franz Gerrit Schulte: Der Journalist Hellmut von Gerlach. München 1988; Ursula S. Gilbert: Hellmut von Gerlach (1866–1935). Stationen eines deutschen Liberalen vom Kaiserreich zum »Dritten Reich«. Frankfurt/Main 1984
Sozialdemokraten, Sozialisten und Gewerkschaften
Zu den geborenen Gegnern der Nationalsozialisten gehörten auch die Sozialdemokraten. Sie konkurrierten mit den Nationalsozialisten zum Teil um dieselben Wähler und standen ihnen gleichzeitig ideologisch unvereinbar gegenüber. Schon Mitte der 20er-Jahre nahm sie mit ihren Institutionen aber auch repräsentiert durch Einzelpersonen den Kampf gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten auf.
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
Sowohl gegen rechte als auch gegen linke Angriffe auf die Weimarer Republik richtete sich das von den Sozialdemokraten am 22. Februar 1924 in Magdeburg gegründete »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« für Kriegsteilnehmer, die sich weder in den nationalistisch-völkischen Veteranenvereinen sammeln wollten, noch kommunistisch gesinnt waren. Am Reichsbanner beteiligten sich auch die Gewerkschaften, das Zentrum und die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Aufgrund dieser breiten Basis gewann es bis 1932 immerhin drei Millionen Mitglieder, davon drei Viertel aus der SPD. Gründer und Leiter der Bewegung war bis 1932 der Magdeburger Oberbürgermeister Otto Hörsing (1874–1937), ab 1932 Karl Höltermann (1894–1955), Journalist und ebenfalls Sozialdemokrat. Mitglieder waren auch namhafte Sozialdemokraten wie Paul Gerlach, Theodor Haubach, Julius Leber, Paul Löbe, Carlo Mierendorff, Erich Ollenhauer, Philipp Scheidemann, Kurt Schumacher und Otto Wels. Von der DDP gehörten dazu Thomas Dehler, Theodor Heuss, Gustav Heinemann, vom Zentrum z. B. Joseph Wirth. Ab 1930, nach dem großen Wahlerfolg der NSDAP, wurde es nach Jahren des Rückgangs reaktiviert und bekämpfte die Nationalsozialisten auch mit deren eigenen Mitteln, nämlich mit paramilitärischen Organisationen im Straßenkampf gegen die Sturmabteilung (SA), die es dabei jedoch in ihrer inneren Struktur nachahmte.
Eiserne Front
1931 schlossen sich unter Karl Höltermann das Reichsbanner und der allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund sowie andere Vereinigungen nach dem Vorbild der »Harzburger Front« aus NSDAP, DNVP und Stahlhelmbund zur sogenannten Eisernen Front zusammen, die sich gegen Nationalsozialisten und Kommunisten richtete und wie schon das Reichsbanner von den Sozialdemokraten dominiert war. Die Eiserne Front betrieb intensiven Wahlkampf, unterlag aber 1933 den Verbänden der Nationalsozialisten und wurde verboten.
Literatur: Günther Gerstenberg: Freiheit! Sozialdemokratischer Selbstschutz im München der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. 2 Bde. Berlin 2001; Benjamin Ziemann: Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924–1933. Bonn 2011; Günther Gerstenberg, Eiserne Front, 1931–1933, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44704> (01.03.2013)
Karl Höltermann
Karl Höltermann wurde am 20. März 1894 in Pirmasens geboren und war der Sohn eines Gewerkschaftssekretärs. Seine Jugend verbrachte er in Nürnberg. Nach der Schulausbildung lernte er Schriftsetzer und trat in die Sozialistische Arbeiterjugend ein. Als Soldat im Ersten Weltkrieg (1915–1918) erlitt er eine Gasvergiftung und schied 1919 als Unteroffizier aus dem Militärdienst aus. Nacheinander arbeitete er für die »Fränkische Tagespost«, den »Sozialdemokratischen Pressedienst« und die »Magdeburger Volksstimme«, wo er 1921 Chefredakteur wurde.
Besorgt um die junge Republik gründete er zusammen mit einigen Sozialdemokraten die »Republikanische Notwehr« und spielte ebenfalls eine unverzichtbare Rolle im »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« von dessen Gründung an. Unter anderem gab er dessen Zeitung »Das Reichsbanner« heraus. Ab April 1932 war er Bundesvorsitzender der Organisation und betrieb die Gründung der »Eisernen Front«. Im selben Jahr wurde er Reichstagsmitglied. Seine letzte Rede als Reichsbanner-Vorsitzender vor dem Berliner Schloss beendete er mit den Worten: »Nach Hitler kommen wir!«
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begab sich Höltermann ins Exil nach London. Zuerst versuchte er, das »Reichsbanner« am Leben zu erhalten, dann strebte er eine Exilpolitik im Gegensatz zum SPD-Exilvorstand an, die er jedoch aufgab.
Nach dem Krieg kam er zu gelegentlichen Besuchen in die Bundesrepublik. Karl Höltermann starb 3. März 1955 in London.
Quellen und Literatur: Martin Schumacher/Katharina Lübbe/Wilhelm Heinz Schröder: M. d. R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Eine biographische Dokumentation. Düsseldorf 31994; Beatrix Herlemann: Hans Höltermann. http://www.uni-magdeburg.de/mbl/Biografien/0063.htm, letzte Änderung: 09.02.2005 (16.06.2013)
Carlo Mierendorff
Carlo Mierendorff wurde am 24. März 1897 in Großenhain (Sachsen) geboren. Am 10. August 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger in Darmstadt. Nach mehreren Erkrankungen nahm er 1916 in Heidelberg das Studium der Volkswirtschaft auf, wurde aber 1917 noch einmal an der Westfront eingesetzt. Von 1919 bis 1922 setzte er sein Studium fort, ergänzt um Staatswissenschaft und Soziologie, und wechselte dabei von Heidelberg nach Freiburg, dann nach Frankfurt. 1920 trat er in die SPD ein. 1922 promovierte Mierendorff über »Die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands«. Danach arbeitete er bis 1924 für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. 1928 wurde er Pressereferent im hessischen Innenministerium unter Wilhelm Leuschner, 1930 Reichstagsabgeordneter. Im selben Jahr veröffentlichte er das Werk »Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung«.
Vom aggressiven Auftreten der Nationalsozialisten ließ sich Carlo Mierendorff nicht einschüchtern. Am 6. Februar 1931 kam es bei der Aussprache über den Haushalt im Reichstag zu einer heftigen Attacke gegen Joseph Goebbels:
[Zu Beginn von Mierendorffs Reichstagsrede schickte sich Goebbels an, den Saal zu verlassen.]