Die Gründe für Passivität oder gar Unterstützung des Systems mögen neben persönlichen Vorteilen, das Einverständnis mit allen oder einigen Zielen des Nationalsozialismus gewesen sein, in Deutschland mag hier und da die Scheu hinzugekommen sein, während eines äußeren Kriegs gegen die eigene staatliche Obrigkeit zu kämpfen. Falsch verstandene Loyalität und bisweilen auch Angst um die eigene Person oder um Angehörige spielten eine Rolle, denn auch wenn das Risiko der möglichen Strafen nicht so groß war, wie oft gefühlt und behauptet, wenn es auch individuell sehr verschieden war – berechenbar war es gewiss nicht.
Widerstandsbegriff im vorliegenden Buch
Das vorliegende Buch trägt den Begriff »Widerstand« im Titel und soll eine Überblicksdarstellung sein. Es fasst zwar, gemäß der bereits gegebenen Abgrenzung, nicht jede Handlung als Widerstand auf, die die Forderungen und Erwartungen der Nationalsozialisten nicht erfüllte, geht aber über das Wortverständnis Kershaws hinaus:
Erstens zeitlich: Außer denen, die sich der NS-Regierung widersetzt haben, werden zunächst Gruppen und Personen vorgestellt, die sich schon vor Hitlers Amtsantritt als Reichskanzler, vor der Sicherung der Macht und der sogenannten Gleichschaltung der NSDAP entgegengestellt haben, ihrer Etablierung entgegenwirken wollten, und z. B. von Matthias Strickler daher eher als Opposition bezeichnet werden.3
Zweitens räumlich: Obgleich nicht ausdrücklich erwähnt, scheint sich Kershaws Definition doch im Wesentlichen auf den Widerstand von Deutschen zu beziehen. Im vorliegenden Buch werden aber auch Beispiele von Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht in den Blick genommen, ebenso die Versuche deutscher Exilanten, das Regime zu behindern oder sich für die Zeit nach dem Zusammenbruch vorzubereiten.
Drittens hinsichtlich der Zielsetzung der handelnden Personen: Als Widerstand werden neben Maßnahmen zur Schwächung oder Beseitigung des NS-Regimes, zu denen z. B. Versuche der Volksaufklärung und -aufrüttelung gehören, auch solche aufgefasst, die auf die Verhinderung oder Eindämmung von NS-Verbrechen zielten, auch wenn sie nicht geeignet waren, die Herrschaft Hitlers insgesamt zu gefährden, dafür aber mit hohem persönlichen Einsatz und Risiko verbunden waren. In diesem Sinne wird die Rettung fremder Menschenleben oder die Kriegsdienstverweigerung um den Preis des eigenen Lebens durchaus als Akt des Widerstands aufgefasst.
Die wichtigsten Personen und Personenzusammenschlüsse des Widerstands gegen Hitler sollen hier vorgestellt werden, denn die Entscheidung für Anpassung oder Widerstand oder das, was dazwischen lag, war immer persönlich. Deswegen stehen die Personen des Widerstands mit ihren Hintergründen im Mittelpunkt. Soweit sie, direkt oder indirekt, Textzeugnisse ihrer Tätigkeit hinterlassen haben, sind Ausschnitte davon in dieses Buch aufgenommen worden. Selbstverständlich ist eine vollständige Darstellung nicht möglich, da nicht alle genannt, geschweige denn ausführlich besprochen werden können; das gilt insbesondere für regionale Gruppen in Deutschland, für den Kampf in den im Zweiten Weltkrieg besetzten Staaten und für die zahllosen Exilanten, die an ihren Zufluchtsorten, etwa als Journalisten oder Schriftsteller, versuchten, Aufklärung nach Deutschland zu bringen und die NS-Herrschaft zu schwächen.
Nach chronologischen und geographischen Gesichtspunkten geordnet werden Beispiele des Widerstands vorgestellt, wobei der Schwerpunkt im Unterschied zu vielen Gesamtbetrachtungen nicht auf dem militärischen Widerstand und dem 20. Juli 1944 liegt, sondern einer – wie schon der Buchtitel anzeigt – auf den Fällen, in denen Menschen schon sehr früh vor Hitler und seiner Partei gewarnt und sich gegen deren Herrschaft gestellt haben. Nicht alle wollten speziell die Weimarer Verfassung retten oder waren Anhänger der Demokratie, wie sie das Grundgesetz festlegt, aber der Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit, besonders nach Geltung von Grundrechten war ein durchaus maßgeblicher Beweggrund.
Trotz Unterschiedlichkeit der Ausgangslage werden auch an fünf Beispielen die Kämpfe von Widerstandsgruppen in fünf besetzten Staaten gegen die deutsche Besatzungsmacht – und bisweilen auch untereinander – einbezogen. Schließlich werden die sich wandelnden Bewertungen des Widerstands, die zeitlich und abhängig von politischem System und vom Standort starken Veränderungen unterworfen waren, behandelt. Ausführliche Literaturangaben bei den betreffenden Abschnitten sollen die weitere Beschäftigung mit einzelnen Personen oder Gruppen erleichtern.
1Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt 22013, S. 225.
2Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Reinbek bei Hamburg 42006, S. 313.
3Matthias Strickler: Der Mensch im Widerstand. In: ders. (Hrsg.): Portraits zur Geschichte des deutschen Widerstands. [Historische Studien der Universität Würzburg, Bd. VI], Würzburg 2005, S. 9–24, hier S. 15.
2. Gegner Hitlers und der NSDAP bis 1933
Die Entstehung der NSDAP und erste Tätigkeit
Als eine von vielen Splitterparteien der frühen Weimarer Republik wurde am 5. Januar 1919 die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) in München gegründet; ihr Programm war völkisch-antisemitisch, aber auch von sozialistischem Gedankengut geprägt. Einer ihrer Initiatoren, der Schlosser Anton Dexler, gewann im darauffolgenden Spätsommer eine Reihe neuer Mitglieder, darunter der vor seiner Ausmusterung stehende Adolf Hitler, der für die kleine Partei zunächst ebenso nützlich wurde wie sie letztendlich für ihn, denn während er als geschickter Redner für sie Stimmen gewann, bot sie ihm ein Forum für seine Agitation und Profilierung. Im Münchner Hofbräuhaus wurde sie bei ihrer ersten Großveranstaltung am 24. Februar 1920 in »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)« umbenannt und ihr 25-Punkte-Programm feierlich vorgetragen. Inzwischen war Hitler für die Partei unentbehrlich und entsprechend einflussreich geworden. Er war bereits Werbeobmann, hatte eine Gruppe von Bewunderern und Unterstützern um sich, darunter Ernst Röhm und Rudolf Hess, und stieg am 29. Juli 1921 als Nachfolger Drexlers zum (zweiten und letzten) Parteivorsitzenden mit gleichsam unumschränkten Befugnissen auf. Die Anhänger der Partei wurden mehr von der Entschiedenheit und Aggressivität des Hauptredners beeindruckt als durch die Aussagen, die sich nicht wesentlich von denen anderer völkischer Gruppen unterschieden und bezogen sich vor allem auf die arische Rasse, auf die Schuld der sogenannten Novemberverbrecher an der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Ablehnung der Demokratie. Immer mehr gelang es Hitler, die Partei auf seine Person einzuschwören. Im August 1921 wurde die Sturmabteilung (SA) gegründet, die in ihren Uniformen und mit dem dynamisch wirkenden Symbol des Hakenkreuzes jene Ordnung symbolisierte, die man in München während der Räteherrschaft so sehr vermisst hatte. Schon 1920 war die Parteizeitung »Völkischer Beobachter« erstmals herausgegeben worden. Im Februar 1923 konnte sie als Tageszeitung erscheinen. Noch im selben Jahr wurde sie von der Parteizeitung »Der Stürmer« ergänzt, deren Herausgeber Julius Streicher im Oktober 1922 mitsamt den etwa 2000 Mitgliedern der Deutsch-Sozialistischen Partei zur NSDAP übergetreten war.
Betätigungsfeld der Partei war zunächst ihr Gründungsort München und die bayerische Umgebung. In München hielt sie am 27./28. Januar 1923 – inzwischen auf 20 000 Mitglieder angewachsen – ihren ersten Reichsparteitag ab. Am Ende desselben Jahres, das durch die Hyperinflation und den Vermögensverlust von Millionen Menschen gekennzeichnet war, hielten die Nationalsozialisten, die nicht auf dem durch die Verfassung vorgesehenen Weg, sondern durch Putsch die Macht erlangen wollten und Benito Mussolinis »Marsch auf Rom« von 1922 bewunderten, den Augenblick für einen Putsch für gekommen. Am 9. November begannen sie daher einen »Marsch auf Berlin«, der allerdings schon an der Feldherrnhalle in München im Kugelhagel der Polizei endete. Die 16 erschossenen Demonstranten