„Also hat Calhoun die Satteltasche noch.“
„Ja.“
Der Junge wandte sich um und verschwand zwischen den Büschen. Kurz danach kam er mit seinem Pferd wieder zum Vorschein.
Dreek nickte ihm zu.
Ben stieg in den Sattel und galoppierte auf dem Weg zurück.
*
Leise trat Lola Starr an das Bett, auf dem Tom Calhoun lag. Sie dachte, dass er schlief, denn sein Atem ging sehr ruhig, und seine Hand war von der Tasche gerutscht.
Fast schien ihr der Herzschlag zu stocken. Dann raste ihr das Blut durch die Adern, und sie hatte Angst, ihre zitternden Hände könnten sie verraten.
Doch die Macht, die von der abgeschabten Tasche ausging, war stärker als alles andere. Sie streckte die Hand aus und nahm sie an sich. Der sonst so wachsame Mann hatte die Augen noch immer geschlossen. Schritt um Schritt zog sie sich zurück. Endlos weit erschien ihr der Weg bis zur Tür. Dann hatte sie es geschafft und wandte sich um.
Sie sah den Stationer, der auf der Laufplanke hinter dem Palisadenzaun stand. Rasch verließ sie das Haus und schlich über den Hof. Als sie neben dem Brunnen stehenblieb, bewegte sich der Mann.
Blitzschnell duckte sie sich hinter die Mauer und wartete. Sie hörte Schritte, unter denen die Planke knarrte. Dann wurde es wieder still.
Als Lola endlich wagte, über den Brunnenrand zu blicken, sah sie Kieler. Er stand jetzt ein Stück weiter rechts, blickte aber noch immer nach draußen.
Vorsichtig stand sie auf und ging weiter. Sie kam zum Stall, ohne dass der Mann sie bemerkt hatte.
Im Stall sattelte sie mit fliegenden Fingern ein Pferd, zog den Bauchgurt fest und griff in die Tasche, um die einschüssige Pistole herauszunehmen. In einer schlaflosen Nacht hatte sie sich ausgerechnet, dass die vielen Dollars alles ändern würden. Eigentlich hatte sie es mit Cory machen wollen, doch dann waren ihr auf dem langen Weg hierher Zweifel gekommen, ob es der Spieler ehrlich meinte.
Sie führte das Pferd in den Hof und stieg in den Sattel. Die Tasche hängte sie ans Horn.
In diesem Moment wandte sich Kieler um. Das Gewehr hatte er mit der Kolbenplatte neben sich auf den Boden gestellt. Maßloses Staunen lag in seinem Blick.
„Los, Kieler, machen Sie das Tor auf“, sagte sie kalt. Die Smith & Wesson hatte sie auf ihn gerichtet.
„Was soll das, Lola? Sie haben doch gesagt ...“
„Ich habe gelogen, Kieler. Ich wollte nur das Geld. Jetzt habe ich es. Öffnen Sie endlich das Tor!“
Ratlos blickte Kieler zum Haus hinüber. Offenbar hoffte er auf Tom Calhoun. Doch der zeigte sich nicht. Da stieg er von der Planke und zog den Balken aus den eisernen Krampen.
„Und jetzt werfen Sie das Gewehr hinaus!“, kommandierte das Mädchen „Los, beeilen Sie sich!“
„Ich weiß, dass Sie nicht schießen, Lola!“
„Verlassen Sie sich lieber nicht darauf. Ich brauche das Geld!“
Da gab es Kieler auf. Er warf das Gewehr hinaus und öffnete ihr das Tor.
„Vorwärts!“, schrie das Mädchen und presste dem Pferd die Absätze in die Flanken. Wie von der Sehne geschnellt, schoss es durch das offene Tor.
Mit müden Schritten ging Kieler hinter ihr her und bückte sich nach seinem Gewehr. Jetzt könnte er hinter ihr herschießen. Vielleicht konnte er das Pferd treffen.
Doch er wusste, dass er sein Gewehr nie auf eine Frau anlegen würde. Auch jetzt nicht. Er wandte sich um, ging in die Station und schloss das Tor. Dann lief er zum Haus.
Hinter einer Rotdornhecke zügelte Lola ihr Pferd. In der Ferne sah sie eine Staubwolke. Vier Punkte schoben sich vor ihr her. Eine dunkle Ahnung sagte ihr, dass es Cory war, der sich näherte.
In dieser Sekunde wurde ihr auch klar, dass Sam kein ehrliches Spiel mit ihr treiben wollte. Eine andere Richtung einschlagend, trieb sie das Pferd wieder an.
*
Auf der Schwelle blieb Kieler stehen. Er blickte Tom Calhoun an, der auf dem Bettrand saß und auf dessen Stirn die Schwäche dicke Schweißperlen gezaubert hatte. Tom Calhoun hatte mehr Blut verloren, als für einen Mann in seiner Lage gut war. Kieler wusste das.
Trotzdem wunderte er sich, dass Tom Calhoun so ruhig dort saß.
Der Stationer betrat den Raum und lehnte sein Gewehr an die Wand.
„Sie ist fort“, sagte er leise.
„Ja. Ich habe ihre Stimme gehört. Sie klang sehr befehlend. Davon muss ich munter geworden sein.“
„Aber sie hat die Tasche bei sich!“, schrie der Stationer.
Tom Calhoun nickte.
„Ich weiß“, erwiderte er.
„Calhoun, das Geld!“, rief Kieler außer sich.
„Ja. Niemals hätte sie Ruhe gegeben. Der Gedanke an das Geld hatte sich so fest in ihren Kopf eingenistet, dass sie nur noch daran denken konnte. Jetzt hat sie es. Ich kann nur hoffen, dass sie einsieht, im Unrecht zu sein, und zurückkommt.“
„Ist das Ihr Ernst?“
„Ja. Mir bleibt nichts anderes übrig.“ Tom Calhoun erhob sich und griff nach dem Colt, der neben dem Bett auf dem Stuhl lag.
Plötzlich reckte Kieler lauschend den Kopf.
„Reiter kommen“, sagte Tom. „Bleiben Sie hier, Kieler. Wir können das Haus gut verteidigen.“
„Ich werde ihnen zurufen, dass wir das Geld nicht haben!“
„Sie werden es nicht glauben.“
Da krachte der erste Schuss. Kratzend fuhr die Kugel über das Dach. Tom war ans Fenster getreten und lehnte sich gegen den Sims. Der Hufschlag war verklungen.
Kieler repetierte das Gewehr. Uber den Palisaden tauchte ein Kopf auf.
Mit einem trockenen Bellen entlud sich Kielers Waffe.
Der Kopf war verschwunden.
„Sie sind zu aufgeregt“, sagte Tom.
Wieder hob Kieler das Gewehr und schoss auf die Hutkrone, die sich am Zaun in die Höhe schob. Sofort verschwand sie.
Dann wurde es draußen still.
Kieler schob neue Patronen in den seitlichen Füllschlitz seiner Waffe.
Da tauchte draußen ein Hut auf, der etwas hin und her schwankte.
Die beiden Männer im Stationsraum schossen nicht.
Der Hut wanderte draußen am Zaun entlang. Er wippte auf und nieder, so dass es aussah, als würde jemand am Zaun entlangreiten.
Plötzlich wurde das Haus von einem berstenden Knall erschüttert, dem das Prasseln von Glas folgte. Im nächsten Augenblick schlug etwas auf die Fichtenholzdielen.
Tom wirbelte herum. Der stechende Schmerz in der Hüfte ließ ihn zusammenzucken.
„Verdammt, daran haben wir nicht gedacht“, sagte Kieler. „Sie sind von hinten ins Haus eingedrungen. Was wollen wir jetzt machen?“
„Bleiben Sie ruhig stehen. Es sind nicht viele.“ Tom blickte auf die Tür, hinter der Kielers Schlafraum lag. Plötzlich hörte er etwas zu Boden poltern.