»Klingt schön. Es muss ja nicht alles so modern und schrill sein. In London war ich mal kurz für ein Wochenende, aber ich glaube, leben würde ich da nicht wollen. Finnland klingt irgendwie gemütlicher. In London ist alles so laut und groß, und ich mag die kleinen Städte lieber.«
Virva schweigt.
»Also, nicht dass Helsinki klein ist, aber doch irgendwie übersichtlicher, und mehr Natur.«
»Ja, das stimmt. Ich mag auch die Natur.«
»Wo wohnst du denn in Helsinki?«
»Am Itäkeskus. Das ist im Osten der Stadt.«
»Ist es schön da?«
»Ich weiß nicht. Es ist in Ordnung.«
EHER PRAKTISCH DENN IDYLLISCH – ITÄKESKUS
Es ist vielleicht nicht das oberste Ziel des Itäkeskus, schön zu sein. Schön neu ist es jedenfalls und heißt übersetzt schlicht »Ostzentrum«. Hauptmerkmal ist das riesige Einkaufszentrum mit rund 300 Läden und Restaurants, umgeben von immer noch wachsenden Wohnanlagen.
Die Nähe zum neuen Hafengebiet von Vuosaari macht diese Region Helsinkis für viele interessant. Ebenso schnell gelangt man in größere Parkanlagen oder auch außerhalb der Stadtgrenzen in die Natur.
Virva parkt parallel zur Straße ein.
Sie sind nur zehn Minuten gefahren und haben das Stadtzentrum noch nicht wirklich verlassen. Neben den Bäumen umschließt ein hoher Metallzaun einen sandigen Platz mit zwei Toren: Fußball in Kleinformat mitten in der Stadt. Nebenan eine kleine Rutsche. Die Häuser ragen sechs Stockwerke in die Höhe, für eine Großstadt nicht viel, für ein familiäres Wohnumfeld aber zu viel, findet Greta.
Doch nach 100 Metern und einer Straßenüberquerung behindert nichts mehr den Blick auf das Wasser. Nur einige Stege und unzählige Masten von kleinen Segelbooten schmücken die Aussicht, Bäume säumen die zahlreichen Halbinseln, die den Vorstoß in die blaue Weite wagen.
Auf dem Uferweg, ganz ähnlich wie zu Hause auf Katajanokka, sind Radfahrer und Fußgänger gemeinsam unterwegs. Und mitten auf der grünen Wiese steht ein kleines rot gestrichenes Holzhaus.
»Terve!« Virva hat schon eine Freundin begrüßt, als Greta noch den besten Fotopunkt sucht. Das Häuschen bringt schlagartig Dorfidylle in die Stadt.
WIE DER NORDEN ZUR ROTEN FARBE KAM
Die typisch nordische rote Farbe, in Mitteleuropa oft Schwedenrot genannt, ist tatsächlich schwedischen Ursprungs. In den Kupferbergwerken von Falun wurde sogenanntes Kupferwasser gewonnen und verschifft, das als wasserhaltiges Eisensulfat für die traditionelle Mischung der Farbe benötigt wurde. Darüber hinaus wurden Roggenmehl und roter Ocker beigefügt. In einigen Regionen verwendete man zusätzlich Teer. Aber erst im 19. Jahrhundert hat man diese Farbe im ganzen Land hergestellt und benutzt. Heute vermittelt unter anderem der Finnische Museumsverband Kenntnisse über traditionelle Farben. Künstlich erzeugte importierte Anstriche sind erst seit den 1930er-Jahren im Umlauf.
Die Bänke rundum sind nach dem kalten Wetter ziemlich leer, über den Himmel ziehen noch einige dunkle Wolken, und Virva steuert auf einen langen Tisch zu, wo bereits einige fröstelnde Personen sitzen. »Das ist Greta, sie kommt aus Deutschland und macht den Master of European Studies wie ich«, stellt Virva sie vor. Greta streift die Kapuze von ihrer Regenjacke hinunter und reicht jedem die Hand. Verlegenes Kichern und ernsthaftes Nicken schlagen ihr entgegen.
»Trinkst du Kaffee?« Virva ist schon auf dem Weg zu einem kleinen Häuschen. Greta folgt ihr. Das Café quillt über von alten Gießkannen, Besen, Gartengeräten und sonstigen Herrlichkeiten aus Uromas Zeiten.
»Genauso habe ich mir Finnland vorgestellt. So heimelig und persönlich«, schwärmt Greta.
»Ich glaube nicht, dass ganz Finnland so ist«, bemerkt Virva, schon wieder auf dem Weg nach draußen.
»Danke für den Kaffee. Das ist ein toller Platz hier. Es ist doch okay, wenn ich Englisch rede?«
»Sicher. Hast du schon viel von Helsinki gesehen?«
»Nein, eigentlich nicht, nur das Stadtzentrum und die Uni. Was muss ich denn unbedingt noch angucken?«
»Hm. Schwer zu sagen, kommt darauf an, wofür du dich interessierst. Es gibt viele bekannte Museen.«
»Und wo ist abends was los? Ich möchte gerne mal länger weggehen, und ich kenne ja noch nicht viele Leute.«
»Ja, zum Beispiel auf der Esplanade.«
»Und wo geht ihr so hin?«
»Das ist verschieden. Am Freitag ...«
»Ja, genau, das war nett da«, ruft Virvas Freundin sofort.
»Viime perjantaina?«, fragt jemand anderes nach und wirft einen Kommentar ein, dass alle schallend lachen. Greta beschäftigt sich mit ihrer Kaffeetasse, denn die anderen scheinen sie vergessen zu haben. Die Unterhaltung fließt auf Finnisch dahin.
»Ich hole mir noch einen Kaffee«, sagt Greta schließlich, stellt sich ans Kopfende des Tisches und fügt ein wenig zu laut hinzu: »Soll ich jemandem was mitbringen?«
Alle sind urplötzlich still.
»Das brauchst du nicht. Aber wenn du möchtest, ja, gerne.« Virva reicht ihr den Becher.
Greta fragt am Tresen nach einer zweiten Tasse.
»Bitte schön.« Ihr werden zwei Zehn-Cent-Stücke hingelegt.
»Ich wollte nur Kaffee ...«
»Ja, dort, bitte, bedien dich.«
Greta nimmt den Kaffee, lässt das Geld liegen und geht hinaus.
»Was war das denn?« Greta stellt Virva die Tasse hin. »Die Frau dort hat mir 20 Cent gegeben, als ich nach Kaffee gefragt habe. Was bedeutet das?«
»Du bekommst Geld zurück, für jedes Nachfüllen zehn Cent.«
»Warum sagst du mir das nicht vorher? Jetzt stand ich da wie blöd!« Ärgerlich geht Greta ins Café, holt das Geld und legt 10 Cent vor Virva auf den Tisch. Die lässt die Münze unbeachtet liegen.
Am Ufer schaukeln ein paar Boote vor sich hin, Kajaks, ein Ruderboot, Kanus. »SUP« ist auf einem Schild zu lesen.
»Sag mal, Virva«, fragt Greta unvermittelt, »sollten wir hier die Wassersportaktionen machen?«
Virva nickt.
»Was kostet das denn? Kann man das heute noch machen? Hat jemand Lust? Virva?«
»Tut mir leid, keine Ahnung.«
»Ich meine: Kommst du mit?«
»Nein, danke.«
»Sonst jemand? Ist doch cool!«
Kurzes, uninteressiertes Kopfschütteln ist die einzige Reaktion am Tisch. Greta geht ins Café und bekommt die Antwort, dass sie heute noch rudern könnte, eine Stunde 20 Euro. Die SUPs gibt es nur mit Guide, und paddeln kann sie nicht.
»Du, Virva, kannst du so lange auf meinen Rucksack aufpassen? Ihr seid doch noch ’ne Stunde hier, oder?«
Noojoo!
Im Gegensatz zu Lauris Filmabend (siehe »Willst du das wirklich?«) hat die Univerwaltung explizit zu einem Kennenlernfest eingeladen. Und sie steuert ihren Teil bei, akribisch, höflich, etwas distanziert, aber korrekt. Das hätte natürlich auch gemütlicher ausfallen können. Da Virva auslandserfahren ist, kann sie sich in Gretas Situation hineinfühlen und versteht, dass diese ein wenig enttäuscht ist. Und Greta kann eine Einladung