Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket). Bernt Engelmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Engelmann
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783958299498
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der Direktor der lärmenden Seidenfabrik, war ein kräftiger Mann um die Fünfzig mit dünnem Haarkranz um den eckigen Schädel, Sommersprossen und kleinem Schnurrbart. Er erklärte schon bei der ersten Begegnung, seine Pranken vorweisend, er sei eigentlich nur ein einfacher Prolet, der es in mehr als dreißig Jahren »wackerer Maloche« für kapitalistische Ausbeuter zum Werkmeister und nun sogar zum Direktor eines Zweigbetriebs gebracht habe. Außerdem sei er Marxist und in Elberfeld als »Roter« bekannt. Hätte ihm die Geschäftsleitung nicht diesen Auslandsposten zugeschanzt, säße er jetzt wohl im KZ, sofern ihn die Wuppertaler SA-Rabauken nicht schon totgeschlagen hätten. Er sei genauso froh wie der Herr Doktor, hier in Como in Sicherheit zu sein und in Ruhe die Weltrevolution abwarten zu können, und gegen Juden habe er gar nichts, im Gegenteil, er begrüße ein Bündnis der bürgerlichen Intelligenz mit dem Proletariat, das dem Klassenkampf eine neue Qualität gebe.

      Puttis Vater, der überhaupt nicht auf die Weltrevolution, sondern nur auf die Wiederkehr von Ruhe und Ordnung in Deutschland wartete, nicht die geringste Neigung zum Klassenkampf verspürte und im vorigen Jahr noch für Hindenburg gestimmt hatte, fand Herrn Erbslöh, wenn er seine politischen Ansichten verbreitete, etwas anstrengend. Aber er war dankbar für die große Hilfe, die Frau Erbslöh für Lottchen bedeutete, und froh darüber, dass Putti nun wieder einen Freund hatte und ganz glücklich zu sein schien.

      Schon etwa drei Wochen nach ihrem Einzug in die vom Fabriklärm umbrandete Villa, wo man die nächtliche und sonntägliche Stille als doppelt wohltuend empfand, kam überraschend Georg Krauss aus Berlin zu Besuch. Er hatte sich eine Geschäftsreise in die Schweiz genehmigen lassen und einen Abstecher zum Freund und Kollegen in Como gewagt.

      Dr. Krauss brachte unerlaubterweise »für Curt noch eingegangene Honorare« mit, fast ein Monatseinkommen guter Zeiten, für Lottchen deren Lieblingspralinen, für Putti als nachträgliches Geburtstagsgeschenk eine Trapperausrüstung nebst Taschenlampe, außerdem eines meiner Lieblingsbücher, Emil und die Detektive, das ich ihm mitgegeben hatte.

      »Kästner hat jetzt Schreibverbot«, berichtete Georg Krauss den Erwachsenen, und überhaupt habe sich der Druck noch verstärkt. Alle Parteien und Gewerkschaften waren aufgelöst, sämtliche dem Regime missliebigen Zeitungen verboten. Es gab nur noch die Organisationen der Nazis und deren Presse, an Literatur kaum anderes als »Blut und Boden«-Verherrlichung. Im Mai waren in allen Universitätsstädten »artfremde« Bücher öffentlich verbrannt worden – »Die größte Schande für ein Kulturvolk, die es überhaupt gibt!«, wie Dr. Krauss laut und deutlich erklärte, obwohl sie bei dieser Unterhaltung im Freien, auf einer Caféterrasse mitten in Como, an der Piazza vor dem Dom, saßen. Dr. Krauss hatte sie alle eingeladen, auch Erbslöhs, mit denen er sich sofort gut verstand.

      »Und diese Dreckskerle, die unser Land in Schande bringen, werden vom Ausland auch noch hofiert! England, Frankreich und Italien haben heute einen Pakt mit der Hitler-Regierung geschlossen! Damit werten sie dieses Schurkenregime auf und billigen stillschweigend alle Missetaten!«

      Rechtsanwalt Dr. Georg Krauss; während des Zweiten Weltkriegs als Verwaltungsoffizier in Frankreich. Nach dem Krieg war er 1. Generalkonsul der BRD in New York.

      Die Männer tranken Grappa, die Frauen Wein, die beiden jungen Orangeade. Die Schnäpse brachte der Kellner in Espresso-Tassen. Die italienischen Faschisten führten gerade eine »Kampagne gegen das Laster« und hatten den Ausschank von Grappa streng reglementiert, nach 21 Uhr gänzlich verboten. Aber niemand schien dies sonderlich ernst zu nehmen.

      »So lässt sich Faschismus gerade noch ertragen«, fand Dr. Krauss. Er hob sein Kaffeetässchen und stieß mit Herrn Erbslöh an. »Bei uns dagegen«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »da ist es genauso, wie es Max Liebermann kürzlich beschrieben hat: ›Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen muss …‹ – ich kann ihm da nur beipflichten. Prost, Curt! Auf unseren Nachbarn!«

      Herr Erbslöh glaubte, er wäre gemeint, und dankte erfreut, obgleich das Prosit eigentlich dem 85-jährigen Maler und von den Nazis abgesetzten Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste galt, dessen Haus am Pariser Platz neben dem stand, wo Dr. Krauss noch als Anwalt praktizierte und wohin sein Freund Curt so gern zurückgekehrt wäre.

      »Sei froh, dass du nicht gewartet hast, Curt«, sagte Georg Krauss etwas leiser. »Es wird jede Woche schwerer für alle, die noch zögern zu emigrieren. Goldstaubs bereiten jetzt ihre Auswanderung nach Amerika vor, Hirschfelds werden nächsten Monat nach Schweden abreisen – vor allem wegen der Kinder.«

      Putti horchte auf.

      »Poldi«, hörte er Dr. Krauss sagen, »ist jetzt allein – Puttis alte Freunde, auch Bernt, sind auf einer anderen Schule, wo es noch zivilisiert zugeht. Der arme Poldi aber muss in der Klasse hinten auf der ›Judenbank‹ sitzen, getrennt von den ›arischen‹ Schülern, und in den Pausen ist er auf dem Schulhof von drei älteren Hitlerjungen verprügelt worden. Nur ein Klassenkamerad ist ihm zu Hilfe gekommen …«

      »Das war bestimmt der Wolfi«, rief Putti dazwischen. »Wolf Oppen, Papa, der bei uns in der Badischen Straße im zweiten Stock wohnt. Stimmt’s, Onkel Georg?«

      Dr. Krauss nickte.

      »Wolfi hat mir auch schon mal mächtig geholfen, als die Wilmersdorfer HJ hinter uns …« Putti brach ab, denn es fiel ihm ein, dass er, um die Eltern nicht aufzuregen, zu Hause nur erzählt hatte, er wäre auf der Treppe ausgerutscht und hingefallen.

      Krauss, der seine Verlegenheit sah, kam ihm rasch zu Hilfe: »Das Tollste habe ich euch ja noch gar nicht erzählt: Erinnerst du dich an Krawuttke, Curt, unseren Hausmeister? Und an Max, das blasse Bürschchen, seinen missratenen Sohn, den du gegen Kaution …?«

      »Ja, natürlich. Er kam gerade noch mit einer Geldstrafe davon. Was hat er nun wieder angestellt?«

      »Er ist jetzt im Stab von Graf Helldorff, unserem neuen Polizeipräsidenten, und von diesem zum SA-Sturmführer z. b. V. ernannt. Z. b. V. heißt ›zur besonderen Verwendung‹. Er besucht wohlhabende jüdische Geschäftsleute und bietet ihnen seine Hilfe bei Auswanderung und Vermögenstransfer an. Bei Goldstaub war er und wollte dessen Atrium-Filmpalast kaufen – zu einem ›Freundschaftspreis‹, versteht sich, etwa so viel, wie die Polster der letzten Reihe im zweiten Rang gekostet haben … Umgekehrt will er Goldstaubs übriges Vermögen dann zum Transfer ins Ausland freigeben – was sagst du dazu?«

      Putti stellte erleichtert fest, dass seine Eltern sich schon ganz auf das neue Thema eingestellt hatten. Seine Mutter gab ihrer Enttäuschung über die Zustände Ausdruck, die Gaunern erlaubten, als Polizei aufzutreten. Sein Vater aber dachte angestrengt nach.

      »Also, Georg, ich hielte eine Schenkung für das Klügste«, meinte er schließlich, »natürlich notariell und mit einigen kleinen Auflagen …«

      Georg Krauss stutzte, dann lachte er.

      »Natürlich! Dass ich darauf nicht gekommen bin! Binnen welcher Frist kann die Schenkung widerrufen werden, wenn Bedürftigkeit eintritt?«

      »Innerhalb der nächsten zehn Jahre, und es genügt, wenn der Schenker in seinem Einkommen erheblich gemindert ist.«

      »Curt, das ist die Lösung! Das werde ich Goldstaub raten … Ach, es ist ein Jammer, dass du in Como sitzt und nicht mehr im Büro nebenan!«

      Auf dem Heimweg sagte Putti zu seinem Onkel Georg: »Die Trapperausrüstung ist edelknorke, und am allerschönsten ist die Taschenlampe, mit der man sogar morsen kann! Hast du das gewusst?«

      »Klar, und jetzt musst du Morsen lernen, als Erstes den internationalen Hilferuf SOS – dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz –, aber mach keinen Unsinn damit und übe nur im Zimmer. Um Hilfe darf man nur in wirklicher Not rufen!«

      »Ich wollte dich bitten, die Trapper-Taschenlampe wieder mit nach Berlin zu nehmen und sie Wolf Oppen zu schenken …«

      »Das finde ich aber sehr anständig von dir – aber, weißt du was? Ich habe noch eine zweite Lampe zu Hause, die bekommt der Wolf, und ich sage ihm wofür und richte