In der Großstadt hoffte sein Vater eher eine Verdienstmöglichkeit zu finden, und dort gab es auch eine Schweizer Schule, die bereit war, den Schüler Richard Eichelbaum nach den Sommerferien aufzunehmen.
Anfang September nahmen sie Abschied von Erbslöhs, fuhren mit dem Zug ins nahe Milano und zogen in eine freundliche Familienpension in der Nähe der Scala, die ihnen empfohlen worden war. Nun hatte die Emigration erst wirklich begonnen, die »Sommerfrische« war endgültig vorbei, auch für Putti, der jetzt zu spüren begann, was es bedeutete, kein Zuhause mehr zu haben.
Bis zum frühen Nachmittag war er in der Schule, wo es ihm sehr schwerfiel, dem Unterricht in deutscher, italienischer und französischer Sprache, nicht selten auch in Schwyzerdütsch, zu folgen. Er, der in Berlin ein guter, die Anforderungen des Gymnasiums ohne Schwierigkeiten erfüllender Schüler gewesen war, zählte jetzt zu denen, die regelmäßig schlechte Noten bekamen, zu den »Nieten«, wie Dr. Zumsteg, sein Klassenlehrer, abfällig bemerkte.
Sein Vater versuchte ihn zu trösten: »Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein«, zitierte er den Evangelisten Matthäus, sehr zur Verwunderung von Lottchen, die besorgt fragte: »Du wirst doch nicht etwa fromm, Curtchen?«
Er lachte. »Keine Sorge – in gärend Drachengift hat man die Milch der frommen Denkart mir verwandelt …«
»Das kenne ich«, rief Putti, »das ist aus Wilhelm Tell, nicht wahr?«
»Na, siehst du, wenn du den Tell kennst, kannst du doch auf der Schweizer Schule damit glänzen!«
Putti befolgte dankbar diesen Rat. Nachdem ihm der Vater den entsprechenden Band von F. v. Schiller’s Sämmtliche Werke bei einem Antiquar besorgt hatte, las er das patriotische Schauspiel, bis er es fast auswendig konnte. Doch es bot sich ihm keine Gelegenheit, Herrn Dr. Zumsteg mit einem Zitat daraus zu beeindrucken, und seine Noten verbesserten sich durchaus nicht.
Es war überhaupt für ihn ein sehr trauriger Herbst und Winter, ohne Freunde, ohne Spielsachen, ausgenommen die Trapperausrüstung, mit der er aber im regnerischen Milano nichts anfangen konnte, und ohne ein richtiges Zuhause. Selbst die Abende, an denen sich die Pensionsgäste in der sala an einem großen Tisch zum gemeinsamen Abendessen einfanden und danach noch ein Stündchen beisammensaßen, miteinander plauderten oder Halma spielten, fand er anfangs nur langweilig, doch dann wurden sie ihm und auch seinen Eltern immer mehr zur Qual.
Seit Frau Curtius und Frau v. Stotz, ältere Beamtinnen des deutschen Konsulats, die ebenfalls in der pensione wohnten, herausgefunden hatten, dass es sich bei Dr. Eichelbaum und Familie um »nichtarische« Emigranten handelte, betraten sie die sala nur noch mit lautem Heil Hitler! und reckten dabei den rechten Arm zum »deutschen Gruß«. Sie erklärten den sehr erstaunten italienischen Pensionsgästen, dass sie so weit wie möglich entfernt von jenen »Hebräern« sitzen wollten, die zwar blond, aber keine »Arier« wären und daher »Untermenschen«, und sie ergingen sich in immer boshafteren Anzüglichkeiten, wobei die häufigen Fragen, ob dieses oder jenes Gericht, das serviert wurde, auch tatsächlich koscher sei, noch die harmlosesten waren. An einem nebligen Dezemberabend – Lottchen und Curt saßen bereits in der sala und unterhielten sich mit einem ingegnére aus Ascona, der ihnen wiederholt seine Sympathie bekundet hatte; Putti hatte sich einen der neuen Mickymausfilme ansehen wollen und gesagt, dass er etwas später käme – wurden sie plötzlich von schrillen Schreien aus dem hinteren Korridor aufgeschreckt: »Hiiilfe! Hiiilfe!«
Die Ursache blieb zunächst rätselhaft, das Abendessen verzögerte sich erheblich. Alle Gäste waren bereits versammelt. Auch Putti hatte sich längst eingefunden und saß brav zwischen seinen Eltern. Nur die Damen v. Stotz und Curtius sowie die Pensionswirtin fehlten noch.
Schließlich erschien die noch sichtlich erregte Wirtin, gefolgt von den beiden Mädchen, die die Schüsseln mit den Spaghetti brachten. Sie tuschelten und kicherten miteinander. Die signora schilderte dann mit dramatischen Gesten, was vorgefallen war:
Die beiden deutschen Damen glaubten, un spettro, un folletto, ein Gespenst gesehen zu haben! Ihr Fenster hätte sich von allein knarrend geöffnet, und ein kleiner buckliger Mann mit einem breitkrempigen Schlapphut, rotglühenden Augen und struppigem Bart wäre ihnen erschienen. Mit dürren grünen Fingern habe er auf sie gedeutet und sie dann in altertümlichem Deutsch mit dem baldigen Tode bedroht …!
Unsinn natürlich, una follia, nichts als Halluzinationen dieser ohnehin etwas überspannten Damen. Man hätte sie mit Weinkrämpfen ins Bett bringen müssen, und von dottore Grimaldi wäre ihnen ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und drei Tage strenge Bettruhe verordnet worden.
Lotte Eichelbaum warf einen raschen Blick auf ihren Sohn, der sich aber ungerührt ganz seinen Spaghetti widmete, dann zu ihrem Ehemann, dessen Mundwinkel zuckten.
»Curtchen, bitte! Beherrsch dich!«
Später erkundigte sich der Papa bei Putti, ob er noch seine Trapper-Taschenlampe von Onkel Georg hätte, deren Licht, wie er sich zu erinnern meinte, auch auf Rot und Grün verstellbar wäre. Putti bestätigte beides, nicht ohne Stolz, und erbot sich, ihm die Lampe vorzuführen.
Aber der Papa winkte ab.
»Ich wüsste nur noch gern, ob es ein – natürlich in die Mehrzahl abgeändertes – Zitat aus dem vierten Akt war, das die Damen gehört zu haben meinen?«
Als Curt dann zu Lottchen ins Nebenzimmer zurückkehrte, nickte er nur, aber sie gab sich damit nicht zufrieden.
»Nun sag schon: Welche Stelle aus dem Tell war es?«
Curt flüsterte, wie wenn er am Wiener Burgtheater spielte und noch im dritten Rang gehört werden wollte, auch mit dem entsprechenden Pathos: »Macht eure Rechnung mit dem Himmel, Weiber! Fort müsst ihr! Eure Uhr ist abgelaufen … Es ist zwar sehr frei nach Schiller, hat aber offenbar Eindruck gemacht.«
»Warst du sehr streng mit ihm?«
»Ich sah dazu keinen Anlass. Auch sagte er: ›Ich hab’ getan, was ich nicht lassen konnte!‹ – ebenfalls aus dem Tell …«
Putti, der nebenan angestrengt gelauscht hatte, hörte seine Eltern zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig lachen.
Als er am nächsten Tag aus der Schule kam, berichtete er seiner Mutter voller Freude, er wäre von Herrn Dr. Zumsteg in Deutsch sehr gelobt und mit der besten Note bedacht worden. Sie freute sich und erlaubte ihm, ins Kino zu gehen. Dann fiel ihr etwas ein, und sie fragte: »Habt ihr vielleicht heute Wilhelm Tell durchgenommen?«
»Ja, endlich! Und ich kam gleich zu Anfang dran, weil ich der Einzige war, der das Stück schon kannte. Ich habe es ausführlich erzählt und konnte sogar einiges auswendig zitieren!«
»Fabelhaft«, fand Puttis Mutter. »Da sieht man mal wieder, wie nützlich die gründliche Beschäftigung mit Klassikern sein kann … Übrigens, vielleicht solltest du es jetzt mal mit Shakespeares ›Julius Cäsar‹ versuchen – wir werden nämlich bald nach Rom ziehen! Denk dir, Papa hat endlich etwas gefunden!«
Curt, der sich in Mailand seit Monaten vergeblich bemüht hatte, eine Anstellung zu finden, wo seine juristischen Kenntnisse gefragt wären, hatte schließlich resigniert und es mit einer Arbeit versucht, für die er sich nicht eignete und die ihm, außer Spesen, auch nichts eingebracht hatte: Er sollte die vornehmsten Mailänder Hotels, Restaurants, Nachtlokale und Ladengeschäfte dazu bewegen, teure Anzeigen in eine Schiffszeitung zu setzen, die auf den aus Übersee in Genua einlaufenden Passagierdampfern zwei Tage vor der Landung verteilt wurde.
Aber die Mailänder Hoteliers, Gastronomen und Juweliere glaubten so wenig an einen Erfolg solcher Reklame wie er selbst. Nur einmal bestellte einer ein teures Inserat. Es war der jüdische Inhaber eines kleinen Juwelengeschäfts an der Piazza Loreto, mit dem er sich lange unterhalten hatte über das