So hatten Onkel Curt und Tante Lottchen nicht, wie geplant und gemeinsam mit meinen Eltern, Hochzeit feiern können. Sie mussten lange warten – bis 1919. Da endlich kam Onkel Moritz heim, spät, aber unversehrt, denn er war nicht, wie befürchtet, gefesselt und geknebelt in einer Höhle gefangen gehalten worden, sondern hatte den Krieg in einem vornehmen Hotel am Kaspischen Meer recht angenehm verbracht.
Nach der glücklichen Heimkehr von Onkel Moritz hatte Tante Lottchen, inzwischen 29, endlich dessen Segen erhalten, und Onkel Curt, der junge Ehemann, bemühte sich fortan, den Schwiegeronkel Moritz, was die sorgfältige Behütung des »Schneeflöckchens« betraf, noch zu übertreffen.
Wollte Tante Lottchen etwa meine Mutter besuchen, während Onkel Curt noch in seinem Anwaltsbüro war, so ließ er sich von ihr vor ihrem Aufbruch zunächst einmal telefonisch versichern, dass sie bestimmt warm genug angezogen sei, und dann war ihm auch ihre unversehrte Ankunft bei uns sofort telefonisch zu melden. Immerhin hatte sie ja einen Fußweg von fast drei Minuten zurückzulegen und die Berliner Straße zu überqueren, auf der Omnibusse und Straßenbahnen verkehrten.
Es versteht sich fast von selbst, dass Tante Lottchen alle hausfraulichen Künste während ihrer langen Verlobungszeit beigebracht worden waren, aber dass ihr als Ehefrau deren Ausübung untersagt blieb. Die hochherrschaftliche Siebenzimmerwohnung im Hause Badensche, Ecke Babelsberger Straße, erst recht die geräumige Küche, betreute Agnes. Zu deren Unterstützung gab es noch eine Putzfrau, die zweimal wöchentlich sowie zu jedem Großreinemachen kam, ferner eine Waschfrau sowie Frau Pommer, eine ungewöhnlich große und korpulente Schneiderin, die Bett- und Tischwäsche nähte, die schwierigsten Reparaturen ausführte und Putti und mir sehr imponierte, weil sie schon in New York und sogar in Santa Fe gewesen war, dort im Opernballett getanzt und ihren Beruf nur einem Mann zuliebe aufgegeben hatte, der ihr dann abhandengekommen war. Und schließlich gab es noch Ihi, die im Nebenhaus bei den Eltern von Poldi und Frank Hirschfeld den Haushalt betreute und die Agnes zu Hilfe kam, wenn Eichelbaums am Abend 24 Personen zum Essen eingeladen hatten.
Das kam glücklicherweise nicht selten vor, denn es gab dann zum Dessert Fürst-Pückler-Eisbomben, wovon Agnes stets und auf geheimnisvolle Weise reichliche Portionen für die Kinder abzuzweigen verstand.
Agnes, die aus einem schlesischen Dorf nach Berlin gekommen war und an Puttis Pflege und Erziehung von seiner Geburt an einen mindestens ebenso großen Anteil hatte wie Tante Lottchen und gewiss einen größeren als der vielbeschäftigte Onkel Curt, handelte damit gegen die strengen Direktiven unserer Eltern, die meinten, Grießpudding mit Himbeersaft sei gut für Kinder, Fürst-Pückler-Eis aber nur für Erwachsene.
Agnes war katholisch. Nur mit Rücksicht darauf, dass sie sich sonntags stets zur Messe in die weit entfernte Hedwigskirche aufmachte und anschließend einen freien Tag haben sollte, war es – so erfuhr ich später – dazu gekommen, dass bei Eichelbaums an Sonntagen alle regulären Mahlzeiten ausfielen und ersetzt wurden durch das wohlvorbereitete kalte Büfett, das sich dann so großer Beliebtheit erfreute.
Das Hausmädchen Agnes mit Putti, 1933
Agnes war es auch, die »ihrem« Putti von dessen Babytagen an stets und dazu »Hühnchen, Hühnchen, putt, putt, putt« singend die blonden Haare zu einer Art Hahnenkamm lockte, dem er seinen Kosenamen verdankte und den er, je älter er wurde, desto weniger mochte. Doch um Agnes nicht zu kränken, ertrug er die, wie wir dann fanden, »unmännliche« Frisur, bis wir in die Sexta des Treitschkegymnasiums in der Prinzregentenstraße kamen. Da wurde auch aus Putti nunmehr Richard, wie er mit richtigem Vornamen heißt. Nur zu Hause und unter engsten Freunden blieb es bei Putti.
Agnes war es schließlich auch, die an einem Sonntagnachmittag, obwohl sie doch eigentlich frei hatte, schon gegen drei Uhr vom Ausgang zurückkam, sogleich Kaffee kochte, ihn den zahlreich versammelten Freunden und Bekannten servierte und dabei Onkel Curt wissen ließ, in der Küche wartete Herr Beek. Er bäte den Herrn Doktor um dessen juristischen Beistand und dazu um eine kurze Unterredung. Ob sie Herrn Beek wohl schon nach nebenan ins Herrenzimmer führen dürfe?
Onkel Curt, der vor allem große Außenhandelsfirmen und Filmgesellschaften zu Mandanten hatte, auch einigen Berliner Konzernen als Justiziar und der Prominenz als Scheidungsanwalt diente, zeigte sich zunächst ganz verblüfft von diesem Ansinnen. Doch dann erklärte ihm Agnes leise, nun auch unterstützt von Tante Lottchen, dass es sich bei Herrn Beek um keinen völlig Fremden handelte, sondern um den Bräutigam von Hirschfelds Ihi, so dass er also schon fast zur Familie gehörte.
Natürlich bekam Herr Beek, von Beruf Möbelpacker, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten und der außerdem, wie wir wussten, in der Schalmeienkapelle des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes ein Schlagzeug bediente, die gewünschten Rechtsauskünfte, zumal er sich eigens für diesen Besuch einen Gehrock nebst Glacéhandschuhen und Melone ausgeborgt hatte. Agnes durfte ihm Kaffee und Kuchen servieren, und Onkel Curt schenkte ihm zum Abschluss der Konsultation einen Cognac ein.
Onkel Curt, als Sohn eines wohlhabenden Silberfabrikanten, der Werkstätten in Potsdam und ein von Gardeoffizieren bevorzugtes Geschäft für silberne Militäreffekten Unter den Linden gehabt hatte und auch Hoflieferant des Kaisers gewesen war, hatte bei aller Ungezwungenheit im Freundeskreis und aller Jovialität im Umgang mit bloßen Bekannten und Mandanten sehr exakte Vorstellungen von preußischer Korrektheit und dem jeweils Schicklichen. Er hielt sonst streng auf Konventionen und auf die Heiligung seines Dissidenten-Sonntags. Dass er dennoch Herrn Beek fast eine halbe Stunde davon opferte, während nebenan seine engsten Freunde versammelt waren, zeigte einerseits, dass er die Wichtigkeit einer Bitte, wie sie Agnes in den zwölf Jahren ihrer Zugehörigkeit zur Familie noch nie geäußert hatte, zu erkennen und zu respektieren vermochte. Andererseits sollte sich die Gewährung der Audienz – aber das konnte damals noch niemand ahnen – später für ihn und die Seinen als sehr nützlich erweisen.
Herrn Beeks Besuch, der schnell wieder vergessen war, fand statt am 6. November 1932, einem Wahlsonntag. Schon zum vierten Mal in diesem Jahr wurde in ganz Deutschland gewählt. Im März und April war es in zwei Wahlgängen um die Reichspräsidentschaft gegangen, und der uralte Feldmarschall v. Hindenburg hatte gegen den Naziführer Adolf Hitler gesiegt – mit den Stimmen von Puttis und meinen Eltern.
»Das hätte ich mir niemals träumen lassen«, war meines Vaters melancholischer Kommentar zu Puttis und meinem Geschrei, wir hätten gewonnen, »dass wir noch einmal froh sein würden, dieses bemooste Kriegerdenkmal behalten zu dürfen …«
»Lass mal, Hans«, hatte Onkel Curt ihm entgegengehalten, »solange wir den alten Hindenburg haben, herrscht zumindest Ordnung, und der Hitler hat keine Chance …«
Aber bei den Reichstagswahlen im Juli waren Hitlers Nazis eindeutig Sieger geworden, zum Entsetzen unserer Eltern. Ein paar Tage lang hatten alle Erwachsenen davon geredet, dass nun dieser hergelaufene Halunke mit dem Chaplin-Bärtchen, der nicht mal richtig Deutsch könnte, vielleicht Reichskanzler werden würde.
Auf dem Dach unseres Gymnasiums hatten ein paar ältere Schüler in braunen Hemden, braunen Breeches-Hosen und Schaftstiefeln schon etwas voreilig eine Hakenkreuzfahne gehisst, die der Schuldiener auf Geheiß des Direktors wieder einholen musste. Karlchen Knoops, der zweimal sitzengeblieben und der Älteste in unserer Klasse war, hatte grinsend von einer »Nacht der langen Messer« gesprochen, die jetzt bald käme.
Aber dann war ein Herr v. Papen Reichskanzler geworden. Seine Regierung war, wie Onkel Curt zu meinem Vater gesagt hatte, »ein Schießbudenfiguren-Kabinett, aber immer noch viel besser als die Nazis«, die dann bei den Reichstagswahlen vom 6. November einen Rückschlag erlitten und mehr als zwei Millionen Wählerstimmen