Die Frage ist damit nicht, ob schulische Wortschatzvermittlung eine positive Wirkung haben kann, sondern ob sie in geeigneter Form stattfindet. Richtet man nämlich den Blick auf den Unterricht oder auch entsprechende Lehrmittel, dann kann generell davon ausgegangen werden, dass Wortschatzvermittlung bzw. ein gesteuerter Ausbau des Wortschatzes ein geringes Gewicht hat bzw. nicht systematisch, sondern nur sporadisch stattfindet. Gut belegt ist dies für den Anfangsunterricht (Neuman/Wright 2014). Zu fragen ist auf diesem Hintergrund auch, ob die Tendenz, gerade auch auf höheren Schulstufen Texte in leichter bzw. einfacher Sprache einzusetzen, dazu beiträgt, die Unterschiede zu vergrößern, zumal sich solche Texte nicht zuletzt durch einfachen Wortschatz auszeichnen. Denn: Differenzen bleiben dann stabil oder vergrößern sich sogar, wenn nichts dagegen unternommen wird (Beck et al. 2013: 2). Welche Form von Wortschatzvermittlung effektiv ist, wird in Kap. 8 genauer dargelegt.
2.4 Aufgaben
Wählen Sie ein Deutsch-Lehrmittel Ihrer Zielstufe. Analysieren Sie es hinsichtlich des Wortschatzes wie folgt:
1 In welchen Sprachlernbereichen (Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben) kommt Wortschatz explizit vor?
2 Was für Wortschatz wird fokussiert?
3 Wie soll dieser Wortschatz vermittelt werden?
4 Wie schätzen Sie die Qualität dieser (expliziten) Wortschatzarbeit ein? Weshalb?
5 In welchen Bereichen kommt Wortschatz nur implizit vor, spielt dort aber Ihrer Einschätzung nach eine wichtige Rolle?
2.5 Weiterführende Literaturhinweise
Beck, I. L., McKeown, M. G. & Kucan, L. (20132). Bringing words to life. New York, London: Guilford Press.
Philipp, M. (2012). Das vernachlässigte Füllhorn der Sprache. Leseforum, (1), 1–22.
3 Das Lexikon
3.1 Der Begriff Lexikon
Das Wort Lexikon (Plural Lexika oder Lexiken) ist wie die meisten Substantive (Nomen) mehrdeutig und meint zum einen die Gesamtheit der Wörter einer Sprache (wie in a)) und zum anderen ein Wörterbuch, eine Wortsammlung (wie in b) und c)):
a) Die Welt der Wörter birgt ebenso viele Wunder wie die Welt der Syntax –vielleicht sogar noch mehr. Denn zum einen sind der Kreativität der Menschen beim Erfinden neuer Wörter genauso wenig Grenzen gesetzt wie beim Bilden von Phrasen und Sätzen, und zum anderen erfordert das Einprägen einzelner Wörter eine ganz eigene Kunstfertigkeit (Pinker 1996: 146).
b) „Gründerszene“ ist eine Plattform der deutschen Digitalwirtschaft und hat ein eigenes Gründerszene-Lexikon aufgebaut (www.gruenderszene.de/lexikon; Zugriff 27.09.2017): Es enthält Begriffe und Definitionen aus der Startup-Szene und Digitalwirtschaft.
c) Der Schweizer Schülerduden ist ein Lernerwörterbuch, das sich speziell an Schüler und Schülerinnen ab der 4. Klasse in der Schweiz richtet. Zum einen sind bspw. die orthografischen Hinweise zielgruppenspezifisch aufbereitet, zum anderen berücksichtigt dieses Wörterbuch das Schweizer Hochdeutsch (inkl. in der Schweiz üblicher Schreibweisen).
In diesem Zusammenhang zu klären sind auch die Begriffe mentales Lexikon und Wortschatz: Mit mentalem Lexikon wird auf den kognitiven Aspekt Bezug genommen: Darunter wird „das Wissen einer Person über die Wörter ihrer Sprache“ (Pinker 2000: 438) verstanden, was wir in Kap. 3.2 genauer ausführen. Wortschatz wird oft synonym zu Lexikon in der Bedeutung ‚Gesamtheit der Wörter‘ und Wortbestand verwendet. Besonders angebracht ist seine Verwendung, wenn man sich auf die Differenziertheit des Wortbestandes in Wortschätze bezieht, wie in d).
d) Die einzelnen Fachwortschätze des Deutschen unterscheiden sich teilweise markant. So ist die Computerfachsprache stark anglisiert, die der Medizin lateinisch-griechisch orientiert und die des Wasserbaus und der Rechtswissenschaft praktisch rein deutsch (http://hilke.elsen.userweb.mwn.de/wortschatzanalyse.html).
Wörterbücher, gedruckte oder elektronische Wortsammlungen, werden als Lexika bezeichnet, wenn es sich um alphabetisch geordnete Nachschlagewerke handelt, die sich nicht speziell mit Sprachwissen beschäftigen.
Im Folgenden werden mentales Lexikon (Kap. 3.2), Lexika und Wortschätze (Kap. 3.3) sowie Wörterbücher (Kap. 3.4) genauer ausgeführt.
3.2 Das mentale Lexikon
Ein etablierter Terminus ist mentales Lexikon (auch inneres Lexikon) als Bezeichnung für den mentalen Wortspeicher im Langzeitgedächtnis des menschlichen Gehirns. Das mentale Lexikon existiert nur individuell im jeweiligen menschlichen Geist und enthält das Wissen über den Wortschatz der speziellen Person. Das interne Worterkennungssystem identifiziert beim Lesen beispielsweise Wortgestalten (mit ihren zugehörigen Lautfolgen), die vor unseren Augen erscheinen. Entsprechen die identifizierten Buchstabenfolgen bestimmten grafischen Mustern bzw. entsprechen die wahrgenommenen Lautfolgen bestimmten Lautmustern, stellt das mentale Lexikon die zugehörigen semantischen, syntaktischen und sonstigen Wortcharakteristika der betreffenden Wörter zur Verfügung. Um kommunizieren zu können, müssen die beteiligten Sprechenden und Hörenden auf identische Lexikoneinheiten und auch auf Regeln, die die Lexeme zu Syntagmen und Sätzen kombinieren, zurückgreifen können.
Das Wort ist nicht als Ganzheit im mentalen Lexikon gespeichert: Das lexikalische Wissen zur Lautung (Lautform), Schreibung (orthografische Form), Bedeutung, Verknüpfung und Verwendung ist modulhaft mit netzartigen Verknüpfungen gespeichert.
Man kann das lexikalische Wissen im mentalen Lexikon zu folgenden Modulen gruppieren:
Phonologisches und artikulatorisches Wissen: Klangmuster und die Aussprachen
Orthografisches Wissen: Schreibungen, Regelwissen
Morphologisches Wissen: Flexionsformen und -muster, Wortbildungsmuster
Syntaktisches Wissen: Wortartenzuordnung und entsprechende Frames
Semantisches Wissen: Verbindung zum Konzept
Pragmatisches Wissen: Zugehörigkeit zu einer Varietät, zu einer Fachsprache etc.
(Siehe weiter Römer 2019: Kap. 6.1., Pustejovsky/Batiukova: Teil II. Kap. 6)
Das mentale Lexikon muss den Sprachbenutzern und -benutzerinnen für das Verstehen und Verwenden von Wörtern Informationen über ihre Lautformen, orthografischen Formen, über ihre semantischen, syntaktischen und pragmatischen Charakteristika zur Verfügung stellen.
In wissenschaftlichen Beschreibungen veranschaulicht und repräsentiert man die lexikalische Wissensstruktur im mentalen Lexikon u.a. mit Lexikoneinträgen (engl. lexical entry). Zu einer sprachlichen Grundeinheit gehören danach ein komplexer Lexikoneintrag mit mindestens folgenden Komponenten:
1 den (lautlichen und grafischen) Formen der sprachlichen Einheit,
2 den Bedeutungen der sprachlichen Einheit,
3 der Wortart und Flexionsklasse (wenn flektierbar) der sprachlichen Einheit,
4 der lexemspezifischen Fügungspotenz (die angelegten Ergänzungsglieder). So verlangt im Deutschen ein Substantiv in der Regel in der Verwendung ein Artikelwort, an dem das Genus, der Numerus und Kasus erkennbar ist. Alle Verben eröffnen „Leerstellen“ für Ergänzungsglieder.
Für das Wort Fahrer kann folgender minimaler Lexikoneintrag im mentalen Lexikon angenommen werden:
1 Fahrer