An einem Beispiel soll das gerade Besprochene illustriert werden: Man kann sich beispielsweise für das Farbadjektiv restbunt in der Wortgruppe „eine restbunte Daunenjacke“ interessieren, das der Neologismus-Server „Die Wortwarte“ am 10.12.2017 als neues Wort geführt hatte:
Stattdessen stoppt man als Mann an der Garderobe und sieht das ganze Elend der vergangenen Winter aufgereiht vor sich hängen: einen ausgebeulten Parka, einen kratzigen Dufflecoat, eine restbunte Daunenjacke, … (www.zeit.de/zeit-magazin/mode-design/2017-12/wintermaentel-maenner-mode-winter).
Methodisch kann man nun folgendermaßen vorgehen: Man fragt sich, ob man das Wort schon einmal gehört hat (Introspektion), danach kann man in Wörterbüchern nachschauen und Menschen aus dem Umfeld befragen. Auch Suchmaschinen wie Google, Bing oder Duckduckgo können eine erste Auskunft geben, wobei zu bedenken ist, dass die Ergebnisse weitgehend von kommerziellen Algorithmen abhängen. Überall kann man zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, dass dieses Farbadjektiv unbekannt ist. Weitergehende Aktionen, wie das Erstellen von Fragebögen oder das Durchsuchen von Korpora, sind diesbezüglich deshalb nicht erforderlich. Das Suchen nach dem Wort restbunt macht jedoch sichtbar, dass relativ viele Wortbildungen mit dem Morphem rest existieren (Restbund von Büschen, Rest- und Abfallstoffe, Reststück, Kunstaktion Restgrün, …). Eine Suche im DWDS-Korpus (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache; www.dwds.de) erbringt viele Einträge mit Rest-, jedoch nicht restbunt. Man könnte daraus nun eine Forschungsfrage nach der Bedeutung, dem Status und dem Auftreten von dem Morphem rest im Gegenwartsdeutschen ableiten. Hier ist es dann sinnvoll, mit der Erstellung eines Korpus (einer Beispielsammlung) zu beginnen. Dieses Korpus kann hinsichtlich linguistischer Charakteristika (wie Wortart, Wortbildungstyp) geordnet werden. Dafür ist es wichtig, dass man eine Vorstellung entwickelt, was Wortarten und Wortbildungsmuster sind.
Die Frage, welcher methodische Zugang sich eignet, wird manchmal zur Glaubensfrage (Herbst/Klotz 2003: 268). Entscheidend ist aber die Fragestellung: Fanselow (2009: 134) diskutierte hinsichtlich der Syntax den Zusammenhang von Empirie und Theorie, der auch für die Lexikologie relevant ist, und hob dabei hervor, dass „wir interessante Daten nur dann gewinnen, wenn uns eine Theorie leitet, die es erlaubt, die richtigen Fragen an die Sprache zu stellen.“
Um damit nochmals auf restbunt zurückzukommen: Die Frage, ob dieses Wort eine Einmalbildung oder ein neues Wort ist, wird methodisch eher über eine systematische Korpusabfrage, die bei Bedarf auch über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgt, zu beantworten sein als über Introspektion. Wenn es aber darum geht, zu untersuchen, wie Lesende mit für sie unbekannten Ausdrücken in einem Text umgehen, wie sie sie interpretieren, dann sind andere Verfahren geeigneter (vgl. Kap. 8).
1.2 Enge Verbindungen zu anderen Disziplinen
Während die traditionelle Sprachwissenschaft den Wortschatz vor allem als ein soziales und kulturelles Phänomen ansieht, geht man seit geraumer Zeit davon aus, dass er eine integrative Rolle für die Grammatik innehat und auch für Nachbardisziplinen wichtig ist (Schwarze/Wunderlich 1985: 8). Im Besonderen die kognitive Linguistik, die Psycho- und Computerlinguistik haben neue Ansätze und Methoden in die Lexikologie eingebracht.
Traditionell besteht eine enge Verbindung zur Lexikografie (Wissenschaft von den Wörterbüchern):
So wie die Lexikographie auf lexikologischen Arbeiten aufbaut, sind umgekehrt lexikologische Hypothesen- oder Modellbildungen in bestimmten Bereichen ohne Rückgriff auf Wörterbücher als Sammlungen des Wissens über Wörter kaum denkbar. (Schlaefer 2002: 9)
Die Korpuslinguistik, die Publizistik (Wörter und Unwörter des Jahres, Fremdwortgebrauch, politische Korrektheit), die automatische Sprachverarbeitung in der Computerlinguistik, die Dialektologie und die Soziolinguistik sind ebenfalls relevant. Aus einer schulischen Perspektive wird Wortschatz zudem etwa von Steinhoff (2009) als „Schaltstelle des schulischen Spracherwerbs“ gesehen, und zwar mit Bezug zu allen Kompetenzbereichen (Sprechen und Zuhören, Lesen, Schreiben).
1.3 Aufgabe
Christoph Hein, ein deutscher Schriftsteller, hat sein 2019 erschienenes Buch „Gegenlauschangriff: Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ betitelt. Das Wort Gegenlauschangriff ruft vielleicht Verständigungsprobleme auf. Mit welchen Methoden kann man diese beseitigen?
1.4 Weiterführende Literaturhinweise
Elsen, H. (2013a). Linguistische Theorien. Tübingen: Narr.
Haß, U. & Storjohann, P. (Hrsg.). (2015). Handbuch Wort und Wortschatz. Berlin: De Gruyter. → Kapitel 1, 13 und 21.
2 Die Bedeutung des Wortschatzes in der Schule
Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Wortschatz während der Schulzeit erheblich ausgebaut wird. Insgesamt kann dann auch gezeigt werden, dass schulische Wortschatzvermittlung einen messbar positiven Effekt auf den Wortschatz der Schüler und Schülerinnen hat, wie die Meta-Metaanalyse von Hattie (2012) belegt (siehe unten, Exkurs).
Um die Bedeutung des Wortschatzes in der Schule besser verstehen zu können, werden im Folgenden mehrere Aspekte kurz diskutiert:
die Verortung des Wortschatzes in den Bildungsstandards,
Wortschatz und Zusammenhänge in verschiedenen Leistungsbereichen,
Wortschatzerwerb und die Rolle der Schule.
Exkurs: Effektstärken und Meta-Analysen
Um die Wirksamkeit von Fördermaßnahmen zu überprüfen, werden in den Bildungswissenschaften Interventionsstudien durchgeführt, die mindestens zwei Förderansätze empirisch vergleichen. Als Ergebnis wird i.d.R. die Effektstärke berichtet, die jeweils die durchschnittliche Differenz zwischen den verglichenen Förderansätzen angibt. So könnte bspw. untersucht werden, ob eine situative oder eine eher systematische Vermittlung von Wortschatz die größere Wirkung hat. Ein Ergebnis einer solchen Untersuchung könnte sein, dass sich zugunsten der systematischen Vermittlung ein moderater positiver Effekt zeigt.
Als Konvention wurde festgelegt, dass Effektstärken von d=.20–.49 als klein, von d=.50–.79 als mittel bzw. moderat und von d≥.80 als groß gelten.
Meta-Analysen umfassen mehrere Interventionsstudien zu einem Bereich, sei es zum Bereich Lesen, Schreiben oder eben auch zu Wortschatz: Ziel dabei ist es, Tendenzen herauszuarbeiten, also zu untersuchen, ob ein positiver oder auch negativer Effekt über mehrere Studien hinweg für eine Fördermaßnahme vorliegt und wie groß dieser Effekt ist. Ähnliches trifft für Meta-Metaanalysen zu, die nicht einzelne Studien zusammenfassen, sondern mehrere Metaanalysen. Die erwähnte Meta-Metaanalyse von Hattie (2012) berichtet für die schulische Wortschatzvermittlung einen moderaten Effekt von d=.67.
2.1 Wortschatz und Bildungsstandards
Bildungsstandards formulieren zentrale Bildungsziele, die sich bspw. in nationalen Leistungsstudien überprüfen lassen (z.B. DESI oder IGLU in Deutschland oder ÜGK in der Schweiz). Gleichzeitig benennen sie auch die Kompetenzen, die die Schule den Schülern und Schülerinnen vermitteln muss, damit die zentralen Bildungsziele erreicht werden können (vgl. Grabowski, 2014). Die Bedeutung des Wortschatzes für die Schule wird im Wesentlichen also über Bildungsstandards und Kompetenzbeschreibungen festgelegt, die sich aber je nach Land unterscheiden können (zum Unterrichtsfach Deutsch vgl. auch Sturm, i.Vorb.). Dies wird im Folgenden kurz dargelegt.
In den deutschen Bildungsstandards