In den Bildungsstandards für den Primarbereich wird Wortschatz dagegen nicht erwähnt. Dem Arbeiten an Wörtern wird aber bezogen auf das Untersuchen von Sprache und Sprachgebrauch ein hoher Stellenwert zugemessen. Das heißt, dass weniger der Ausbau von Wortschatz im Zentrum steht, sondern vielmehr analytische Fähigkeiten fokussiert werden, indem die Schülerinnen und Schüler Wörter sammeln und ordnen oder Möglichkeiten der Wortbildung kennen sollen. Bemerkenswert ist auch, dass im Bereich Lesen nur vom Nachschlagen von Wörtern die Rede ist (wenn Verstehensschwierigkeiten auftreten). Insgesamt deutet sich hier eine etwas andere Konzeption von Wortschatzarbeit an als in den Bildungsstandards für die Hauptschule oder den mittleren Schulabschluss.
In den Lehrplänen der verschiedenen Bundesländer wird dem Wortschatz jedoch ein größeres Gewicht eingeräumt. Ähnliches gilt für den Schweizer Lehrplan (D-EDK 2016): So hält dieser fest, dass Wortschatzförderung eine Aufgabe aller Fachbereiche ist; gleichzeitig wird für die Sprachhandlungsdomänen Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben im Fach Deutsch ausgeführt, welche Aspekte jeweils relevant sind, wie die folgenden Beispiele illustrieren:
1 Grundfertigkeiten Sprechen (bis Ende 2. Klasse): Die Schülerinnen und Schüler „können ihren produktiven Wortschatz aktivieren, um sich in verschiedenen Themen und Situationen sprachlich angemessen auszudrücken“ (D-EDK 2016, S. 28).
2 Grundfertigkeiten Schreiben (Klasse 3–6): Sie „können Wörter, Wendungen und Satzmuster in verschiedenen Schreibsituationen angemessen verwenden und ihren produktiven Wortschatz aktivieren“ (ebd.: 33).
3 Lesen – Sachtexte verstehen (Klasse 7–9): Die Schülerinnen und Schüler „können die Bedeutung von unbekannten Wörtern aus dem Kontext erschliessen, erfragen oder mit geeigneten Hilfsmitteln […] nachschlagen und damit ihren rezeptiven Wortschatz erweitern“ (ebd.: 23).
Wie dieser kurze Einblick offenbart, sind im Zusammenhang mit Wortschatz noch einige offene Fragen auszumachen – etwa hinsichtlich des curricularen Aufbaus oder der Verortung in einem Kompetenzbereich –, die letztlich auf theoretische wie auch empirische Lücken verweisen. Hinzu kommt: Bildungsstandards sowie Lehrpläne geben i.d.R. keine Hinweise zur Art der Vermittlung: Das ist Sache der Lehrpersonen bzw. der Ausbildungsstätten, die auch aufgefordert sind, neue wissenschaftliche Befunde aufzunehmen.
2.2 Zusammenhang von Wortschatz und verschiedenen Kompetenzbereichen
Allgemeiner wie auch schulischer bzw. bildungssprachlicher Wortschatz – zu Unterscheidungen dieser Art vgl. Kap. 8 – erklärt Leistungsunterschiede in verschiedenen Schulfächern, und zwar über den sozioökonomischen Status hinaus. Besonders gut belegt ist dies für den Bereich Lesen (Adlof/Perfetti 2014; Beck et al. 2008; Mol/Bus 2011):
Der Wortschatzumfang kann die Leistungen im Wortlesen (1., 3. und 5. Jahrgangsstufen) und im Leseverstehen (von der Primarstufe bis zur 12. Klasse) vorhersagen.
Lesezeit und Wortschatzumfang korrelieren, und zwar über alle Altersstufen hinweg (inkl. Studierende einer Hochschule). Tendenziell zeigen sich mit zunehmendem Alter auch stärkere Zusammenhänge.
Zwischen Wortschatz und Leseverstehen besteht eine reziproke Beziehung, die den so genannten Matthäus-Effekt begünstigt (Reiche werden reicher, Arme werden dagegen ärmer).
Schüler und Schülerinnen mit eher geringem Wortschatzumfang zeigen ca. ab 4. Klasse tendenziell eine flachere Leseentwicklung, während sich für solche mit größerem Wortschatzumfang eine steilere Entwicklungskurve verzeichnen lässt.
Es zeigen sich generell stärkere Zusammenhänge von Wortschatz, Lesezeit und Leseverstehen bei schwachen Lesern und Leserinnen.
Es kann darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass ab etwa der 4. Klasse Wortschatz in erster Linie über das Lesen erworben wird: Wortschatz in schriftlichen Texten unterscheidet sich von alltäglichem Wortschatz in gesprochener Sprache hinsichtlich seiner Komplexität, Abstraktheit oder auch Häufigkeit (McKeown et al. 2017). Das gilt im Besonderen für Sachtexte, die ab 4. Klasse zunehmend wichtiger werden und damit für den Lernerfolg in Fächern wie Geschichte, Biologie oder Physik eine zentrale Rolle spielen. Doch auch Kinderbücher, wie sie im Kindergarten oder ab 1. Klasse eingesetzt werden, enthalten etwa dreimal mehr niedrig frequente Ausdrücke wie Fernsehsendungen oder auch Gespräche zwischen Erwachsenen und Kindern (Mol/Bus 2011: 269).
Zum einen unterstreichen solche Befunde zusätzlich die Bedeutung von schulischer Wortschatzarbeit – besonders auch in den höheren Jahrgangsstufen –, zum anderen deutet sich hier an, dass Leseförderung und Wortschatzarbeit eine besonders gute bzw. wirksame Kombination darstellen kann. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Schüler und Schülerinnen, die eine Lese-Routine entwickeln, zunehmend mehr Wortbedeutungen und Wortformen erwerben: Dies wiederum erleichtert das Lesen und begünstigt den Ausbau einer Lese-Routine. Allerdings setzt dies auch voraus, dass die Schüler und Schülerinnen die lesebezogenen Grundfertigkeiten ausreichend erwerben, so insbesondere die so genannte Leseflüssigkeit (Rosebrock et al. 2011).
Zusammenhänge von Wortschatz und schulischer Leistung sind auch mit Blick auf das Hörverstehen (u.a. Marx/Roick 2012) oder bezogen auf Schreibkompetenzen (u.a. Mathiebe 2018; Olinghouse/Leaird 2009) belegt. Insgesamt existieren dazu jedoch deutlich weniger Untersuchungen als für den Bereich Lesen. Kapitel 8, das wirksame Wortschatzförderung fokussiert, legt deshalb einen Schwerpunkt auf Wortschatzvermittlung im Bereich Lesen, geht aber auch auf andere Bereiche ein.
2.3 Ausbau des Wortschatzes und die Rolle der Schule
Gut belegt ist, dass bereits im Vorschulalter große Differenzen hinsichtlich des Wortschatzumfangs zwischen den Kindern bestehen. Diese lassen sich hauptsächlich auf den Einfluss des sprachlichen Inputs im Elternhaus bzw. familiären Umfeld zurückführen. Aber auch Hobbys und Interessen tragen zu Unterschieden im Wortschatzumfang bei (McElvany/El-Khechen/Schwabe/Kessels 2016). Zur Illustration wird etwa erwähnt, dass Lernende mit hohem sozioökonomischen Status (=SES) im Vergleich zu Lernenden mit niedrigem SES bereits in der ersten Klasse über den doppelten Wortschatzumfang verfügen. Gleichzeitig kann beobachtet werden, dass diese Differenzen über die Schuljahre hinweg stabil bleiben (vgl. u.a. McKeown et al. 2017).
Umso mehr stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Schule bei der Zunahme des Wortschatzes leistet bzw. auch leisten kann. Der weitaus größte Teil der Studien fokussiert allerdings die ersten Schuljahre (Neuman/Wright 2014): Dort zeigt sich, dass die Unterschiede im Wortschatzumfang durch die Schule sogar eher vergrößert statt minimiert werden. Letzteres ist u.a. darauf zurückzuführen, dass in Schulen mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schüler, die einen tiefen SES haben, nicht nur signifikant weniger Ausdrücke, sondern auch deutlich weniger komplexe Ausdrücke vermittelt werden. Das bedeutet entsprechend auch, dass gerade jene Lernenden, die hinsichtlich des Wortschatzes Förderbedarf haben, nicht die notwendige Förderung erhalten.
Ein ähnliches Bild zeichnet eine Teilstudie zu Wortschatz im Rahmen von DESI, einer nationalen Studie zur Erfassung sprachlicher Leistungen in Klasse 9 (Willenberg 2008): Die Wortschatz-Leistungen in Deutsch unterscheiden sich in den Bildungsgängen erheblich. Während ca. 44 % der Lernenden im Gymnasium das oberste und weitere 24 % das mittlere Niveau erreichen, sind dies nur 2 % resp. 4 % in der Hauptschule (etwas mehr als 70 % beherrschen dort den getesteten Grundwortschatz auch nur teilweise).
Aus solchen Ergebnissen könnte etwas vorschnell der Schluss gezogen werden, dass der Einfluss der Schule letztlich gering ist, dass der außerschulische ungesteuerte Wortschatzerwerb und damit der familiäre Hintergrund, allenfalls auch