11
Leeder, November 1560
»Wo der Meister sich wohl jetzt befinden mag?« Jacobus Rehlinger sprach Anna aus der Seele. Es war der Gedanke, der alle im Schloss versammelten Anhänger und Freunde Schwenckfelds seit Langem beschäftigte. Anna hatte sich viel Mühe gegeben, um das Konventikel in der Form abzuhalten, wie Jacobus es ihr aus der eigenen Erfahrung mit Caspar weitergegeben hatte, und doch hätte sie es wenigstens einmal mit ihm selbst erleben wollen.
»Ich vermute, dass er sich in Öpfingen oder in Memmingen aufhält. Er folgt einer göttlichen Eingebung, die ihn behütet und vor Verfolgung bewahrt«, wandte Georg Mayer ein.
»Und ich habe ihm immer noch nicht begegnen dürfen. Was wohl seine überstürzte Abreise am Tag vor unserer Hochzeit ausgelöst hat? Ob er vor den Schergen des bayerischen Herzogs fliehen musste?«, sagte Anna und seufzte vernehmlich.
»Du trägst ihn in deinem Herzen, und nur das zählt. Agnes Martt wird jeden Tag aus Augsburg erwartet. Bestimmt wird sie Neuigkeiten mitbringen. Dort weiß man immer, wie es um ihn steht.« Emanuel nahm Anna in den Arm. »Darf ich dich um die Bibellesung bitten, Georg? Jacobus wird heute die Predigt übernehmen.«
Anna genoss es, Gastgeberin zu sein. Sie war es, die die Lieder aussuchte und nach dem Konventikel aus der Küche auftischen ließ. Auch wenn sie an diesem Sonntagabend erkennen musste, dass die Gespräche sich weniger um das seelische oder leibliche Wohl drehten, sondern erfüllt waren von der Sorge um Caspar.
»Wir hätten ihn nicht ziehen lassen dürfen; in den Monaten, die er hier verbracht hat, sind wir zu einem wichtigen Zentrum seiner Lehre geworden. In Schäfmoos war er jedenfalls sicher und behütet. Die Sorge um sein Wohlergehen und sein Leben teilen wir alle. Lasst uns miteinander für ihn beten, dass der Herr, unser Gott, ihm das Geleit gebe und ihn auf sicheren Pfaden führe.«
Anna stellte bewundernd fest, dass Jacobus Rehlinger wie immer die richtigen Worte gefunden hatte, und sie beneidete alle im Raum, die die unerklärliche und glückselig machende Ausstrahlung Caspars am eigenen Leib hatten erfahren dürfen.
12
Bologna, Weihnachten 1560
Am Vorabend des Weihnachtsfestes lagen die Freunde in ihren Betten und Otto sinnierte. »Denkt ihr nicht manchmal an eure Eltern?« Er ertappte sich dabei, wie wenig seine Gedanken in letzter Zeit bei seiner Familie waren. Das Studium forderte ihn so sehr, dass er kaum an irgendetwas anderes denken konnte. Bis jetzt hatte er nie den Heiligen Abend ohne sie verbracht.
»Ich denke oft an meinen Vater«, antwortete Giacomo. »Ihr müsst wissen, dass er den jähen Tod gestorben ist, ohne Sakramente und Letzte Ölung, nun müssen wir alles daransetzen, um ihn aus dem Fegefeuer zu befreien.«
»Ich werde ihn in meine Gebete einschließen«, versuchte Otto, seinen Freund zu beruhigen.
»Wisst ihr, warum Oktavian nicht im Collegio ist?«, wollte Otto wissen.
»Ich glaube, er macht einen Besuch bei seinem älteren Bruder in Venedig. Die Honolds machen dort gute Geschäfte, und ehrlich gesagt würde ich ebenfalls lieber in einem Palazzo am Canale Grande das Fest verbringen als in unserem muffigen Kloster«, erklärte Giacomo. »Vor allem ist es wichtig für mich, auf andere Gedanken zu kommen.«
»Du brauchst ein wenig Abwechslung, Giacomo. Die Citras sind fast alle zu ihren Familien nach Hause gereist, der Regens ist in Rom und das bedeutet für uns, dass die Katze aus dem Haus ist, ihr Ratten! Lasst uns am Heiligen Abend das Fest der Nächstenliebe feiern, wie Luther es so schön genannt hat. Während die Brüder ihre Christmette zelebrieren, statten wir den Mädchen im Castello einen Besuch ab, sozusagen eine delectatio carnalis27. Francescos Vögelchen werden deinen Alten schnell vergessen machen.« Rico pfiff durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. »Was meinst du, Giacomo, wollen wir den Kanonikus mitnehmen?« Dabei wandte er sich Otto zu. »Hast du denn überhaupt Lust mitzukommen?«
Otto hatte all die Wochen nicht mehr an die casa di tolleranza gedacht, zu sehr war er mit den Vorlesungen, den Büchern und den Aufgaben beschäftigt, die sich auf seinem Schreibpult stapelten. »Was glaubt ihr denn? Natürlich komme ich mit.« Er klang überzeugter, als er war, aber er wollte auf keinen Fall ein Spielverderber sein, schließlich war er doch in Italien, um das Leben und alles, was es zu bieten hat, richtig kennenzulernen.
»Holst du morgen das Losungswort ab?«, fragte Giacomo Rico.
»Nicht nötig, ich denke, es gibt erst im neuen Jahr einen Wechsel der Losung, so lange ist die alte gültig«, flüsterte Rico und Otto spitzte die Ohren.
»Also sub tuum praesidium«, wiederholte Giacomo.
»Schrei noch lauter!«, zischte Rico. »Sub tuum praesidium! Otto, hast du gehört?«
Otto konnte mit der Übersetzung »unter deinen Schutz« keinen Zusammenhang zu einem Bordell herstellen. »Ich bin ja nicht taub! Ich versuche nur, mir den morgigen Abend bildhaft vorzustellen, und stolpere über die Tatsache, dass es eigentlich eine schwere Sünde ist, was wir da vorhaben.«
»Jetzt hör auf mit deinen Moralvorstellungen, Otto. Alle machen es, vom Papst über die Rotkappen und Bischöfe, bis hinunter zu den Pfaffen und Kuttenbrunzern.« Otto kannte bereits die markigen Sprüche Ricos. Sie rangen ihm nur ein müdes Lächeln ab.
»Danke für euer Vertrauen, ich werde mir ja wohl Gedanken machen dürfen. Wie hältst du es eigentlich mit der Tugend, Giacomo? Bist du nicht so erzogen worden, die Zehn Gebote einzuhalten und in Rechtschaffenheit und Gottesfurcht durch das Leben zu gehen?«
»In unserer Familie hat man es mit der Hilfe Gottes zu großer Macht und Einfluss gebracht. Ibi fas ubi proxima merces28. Niemand aus unserer Familie würde all die skrupellosen Geschäfte, die mein Großvater und mein Vater mit Königen, Kaisern und sogar dem Papst gemacht haben, als verwerflich und unmoralisch bezeichnen. Bei uns lebt man nach der Devise: Gut ist, was uns nützt. Mein Großonkel Jakob war sein Leben lang ganz eng mit der Kirche verbunden. Hinter all seinem Tun standen sein guter Wille und der Wille des Allmächtigen. Auch wenn in den Kriegen, die er dem Kaiser finanziert hat, Tausende von unschuldigen Menschen ihr Leben verloren haben, war es für ihn und sein Gewissen ausreichend, für diese armen Seelen in Augsburg eine eigene Kapelle zu bauen und ausstatten zu lassen. Mit seinen Zinsen, die er für das Verleihgeschäft verlangt hat, hat er sich nicht nur zum reichsten Mann der Welt gemacht, sondern gleichzeitig Tausende in die Armut und in den Tod getrieben. Weil er aber ein rechter Fugger ist, hatte er selbst dafür mit dem lieben Gott eine Vereinbarung getroffen: Er stiftete eine Siedlung für Arme und Bedürftige. Die Leute wohnen dort umsonst und sprechen dafür täglich einmal ein Vaterunser, ein Credo und ein Ave-Maria für den Stifter und meine Familie. Aber wem erzähle ich das alles, man kennt ja die Geschichten über unsere Familie. Du hast nur ein Leben, das du nach deinem Gutdünken gestalten kannst. Wenn du deinem Gott am Altar dienen und auf das fleischliche Glück verzichten willst, dann tu es! Wenn du dein Leben in einem Kloster verbringen willst, wer hindert dich? Aber jetzt lerne die Welt kennen, die die katholische Kirche als schlecht und verdorben darstellt. Mach dir dein eigenes Bild von dem, was in der katholischen Badestube vor sich geht, hinterher kannst du immer noch zum Pfaffen gehen und deine Sünden beichten.«
Selbst wenn Giacomo nicht so brillant argumentiert hätte, Otto war inzwischen gerne bereit, sich überzeugen zu lassen. Er sehnte sich nach der Wärme und Geborgenheit eines anderen Körpers. Die Nächte waren frostig und im großen Dormitorium stand nur ein kleiner Ofen, der kaum verhindern konnte, dass sich an den Fenstern Eisblumen bildeten. Wer wollte, konnte sich für das Bett einen heißen Stein aus der Küche nehmen, der für ein paar Stunden Wärme verbreitete. Er beschloss, einen solchen zu holen.
»Sub tuum praesidium confugimus, Sancta Dei Genetrix. Nostras deprecationes ne despicias in necessitatibus, sed a periculis cunctis libera nos semper, Virgo gloriosa et benedicta.29«