Kapitel 3
Der »weinende Indianer« und die Geburtsstunde der Ablenkungskampagne
Gutes Handeln gibt uns selbst Kraft und inspiriert gutes Handeln in anderen.
— Plato
Aber unsere Energieprobleme sind in vielerlei Hinsicht das Ergebnis eines klassischen Marktversagens, das nur durch kollektives Handeln behoben werden kann, und die Regierung ist das Mittel für kollektives Handeln in einer Demokratie.
— Sherwood Boehlert, ehemaliger Abgeordneter des US-Repräsentantenhauses (für den Bundesstaat New York) und damaliger Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses
In ihrem Bemühen, eine Politik zu besiegen, die sie als nachteilig für ihre Sache empfinden, haben Interessengruppen oft eine Strategie eingesetzt, die als Ablenkungskampagne bekannt ist. Diese Kampagnen zielen darauf ab, die Aufmerksamkeit von Forderungen nach gesetzlichen Reformen abzulenken und den Zuspruch für Maßnahmen zu dämpfen, die ein schlechtes, Verbraucher und Umwelt bedrohendes Verhalten der Industrie unterbinden würden. Die Verantwortung wird stattdessen auf das persönliche Verhalten und das individuelle Handeln übertragen. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der jüngeren US-Geschichte, an denen die Tabakindustrie und die Waffenlobby beteiligt waren. Der Urtyp der Ablenkungskampagne ist jedoch zweifelsohne die Werbekampagne mit einem weinenden Indianer in den frühen 1970er Jahren.
Frühere Ablenkungskampagnen bilden den Ausgangspunkt, um die aktuelle Debatte über die Rolle des individuellen und kollektiven Handlungsspielraums bei der Bewältigung der Klimakrise zu verstehen. Ablenkung stellt eine entscheidende Komponente der mehrgleisigen Strategie dar, mit der die fossile Brennstoffindustrie auch heute gegen Versuche kämpft, ihre Tätigkeiten zu reglementieren. Sie ist eine wichtige Frontlinie im neuen Klimakrieg.
Ablenkungskampagnen
Der von der National Rifle Association (NRA) verwendete Slogan »Guns Don‘t Kill People, People Kill People« (Waffen töten keine Menschen, Menschen töten Menschen) kann als Lehrbuchbeispiel für eine solche Ablenkung angesehen werden. Er verfolgt die Absicht, von dem Problem des leichten Zugangs zu Angriffswaffen abzulenken und auf andere angeblich für Massenerschießungen verantwortliche Faktoren wie psychische Erkrankungen oder Gewaltdarstellungen in den Medien zu verweisen. Die auf diesem Slogan basierende Kampagne hat sich als bemerkenswert wirkungsvoll erwiesen, um eine vernünftige Reform des Waffenrechts zu verhindern. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass 57 Prozent der Öffentlichkeit der Meinung sind, dass Amokläufe »Probleme bei der Identifizierung und Behandlung von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen« widerspiegeln, während nur 28 Prozent das Phänomen auf allzu laxe Waffengesetze zurückführen. Satte 77 Prozent glauben, dass die tragische Schießerei an der Parkland High-School 2018 in Florida durch eine effektivere Untersuchung der psychischen Gesundheit hätte verhindert werden können. 1
Wie der Experte für Waffengewalt, Dennis A. Henigan, erklärte, »wird die politische Macht der Waffenlobby niemals überwunden werden, solange diese Mythen nicht zerstört sind. … Die Quelle der unverhältnismäßig großen politischen Macht der NRA ist nicht nur ihr Geld und die Intensität der Überzeugungsarbeit ihrer Anhänger, es ist auch die effektive Vermittlung einiger einfacher Prinzipien, die bei gewöhnlichen US-Amerikanern Anklang finden und sie davon überzeugen, dass Waffenkontrolle wenig mit der Verbesserung ihrer Lebensqualität zu tun hat«. Er merkte an, dass der »Waffen-töten-keine-Menschen«-Slogan »bemerkenswert effizient darin war, die Aufmerksamkeit von der Frage der Waffenregulierung auf die endlose und oft erfolglose Suche nach ›grundlegenderen‹ Ursachen krimineller Gewalt abzulenken.«2 Oder, wie der Journalist Joseph Dolman es ausdrückte, »es geht um die Macht einer Interessengruppe, das zu verhindern, was für die meisten von uns wie ein echter gesellschaftlicher Fortschritt erscheint.« Nicht zuletzt dank der erfolgreichen Ablenkungskampagne der Waffenlobby sterben jedes Jahr etwa vierzigtausend US-Amerikaner durch Waffengewalt.3
Ebenso feige, wenn auch weniger bekannt, ist das Bemühen der Tabakindustrie, von den Gefahren durch Hausbrände abzulenken, die von Zigaretten ausgelöst wurden, indem sie stattdessen mit dem Finger auf brennbare Möbel zeigt. »Zwar behaupteten sie keineswegs, dass Zigaretten keine Brände verursachen würden, sie wiesen jedoch darauf hin, dass flammhemmende Möbel die beste Lösung gegen das Übel darstellen würden«, so Patricia Callahan und Sam Roe, ein Journalistenpaar von der Chicago Tribune. Sie schrieben eine Reihe von Artikeln über diese klassische Ablenkungskampagne der Tabakindustrie, die diese in Abstimmung mit der chemischen Industrie durchgeführt hatte.4
Brandopfer- und Feuerwehrverbände hatten sich für Gesetze eingesetzt, die die Tabakindustrie verpflichten würden, brandsichere Zigaretten zu entwickeln, die nicht weiter abbrennen, sobald sie nicht mehr konsumiert werden. Vertreter der Tabakindustrie betonten jedoch, dass dies eine schwerwiegende Forderung sei, welche die Qualität des Raucherlebnisses und die Attraktivität ihrer Produkte schmälern würde. Stattdessen versuchten sie, die Bemühungen der Feuerwehrorganisationen zu neutralisieren und, was noch kühner war, sie zu vereinnahmen. Charles Powers, ein leitender Angestellter des Tobacco Institute – einer Interessensvertretung der Tabakindustrie – prahlte, dass »viele unserer ehemaligen Gegner in der Feuerwehr uns verteidigen, unterstützen und unsere Bundesgesetzgebung als ihre eigene ausgeben«.5
Wie hat die Tabakindustrie eine solche Herkulesaufgabe bewältigt? Durch das klassische Instrument aller erfolgreichen Ablenkungskampagnen – der Täuschung. So infiltrierten Unterstützer aus der Industrie die Brandschutzorganisationen, um ihre Aussagen zu beeinflussen, und schmierten viele Menschen, die für eine echte Reform arbeiteten. Der Vizepräsident des Tabakinstituts, Peter Sparber, initiierte die Bemühungen Mitte der 1980er Jahre. Zu jener Zeit hatte er das Tobacco Institute verlassen, um seine eigene Lobbyfirma zu leiten, während er weiterhin das Tobacco Institute vertrat, das sich zu einem wichtigen Klienten entwickelte. In dieser Funktion setzte er sich weiterhin für die Interessen des Tobacco Institute ein, während er gleichzeitig plausibel jegliche direkte Verbindung zu Big Tobacco abstreiten konnte.
Sparbers krönender Erfolg war die Transformation (und letztlich die Nutzbarmachung) einer vom Gouverneur ernannten Feuerwehrtruppe zum Nationalen Verband der Feueraufsicht (National Association of State Fire Marshals, NASFM). Er meldete sich freiwillig, um als gesetzgeberischer Berater der Organisation zu dienen und in deren Exekutivrat mitzuwirken. Es ist erwähnenswert, dass eine thematisch ähnlich ausgerichtete Gruppe, Association of State Climatologists (Verband der staatlichen Klimaforscher), später von den Kräften der Verleugnung des Klimawandels als »Waffe« eingesetzt wurde).6 Sparber wurde sogar auf dem offiziellen Briefkopf der NASFM aufgeführt und benutzte deren Büro in Washington.
Zu den ersten Aktionen unter Sparbers Führung gehörte die Billigung eines von der Industrie unterstützten Bundesgesetzes, das weitere Forschung zu feuersicheren Zigaretten forderte – anstelle eines konkurrierenden Gesetzes, der diese tatsächlich gefordert hätte. Sparber versuchte, die Aufmerksamkeit auf den vermeintlichen Bedarf an feuerfesten Möbeln und den Einsatz von Flammenschutzmitteln umzulenken.
Flammschutzmittel sind Chemikalien (genauer: polybromierte Diphenylether (PBDE)), die Produkten wie Fernsehern, Computern, Kinderautositzen, Kinderwagen, Textilien und ja, Möbeln, zugesetzt werden, um die Entstehung von Bränden zu verzögern. Sie sind giftig und reichern sich im Laufe der Zeit im menschlichen Körper an. Studien zeigen, dass PBDE die Hirnentwicklung bei Kindern hemmen und die Spermienbildung wie auch die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigen können. Sie sind bereits in mehreren Staaten verboten worden.7 Im