Tina kann ihre Unruhe nicht mehr unterdrücken. Ob Jelena krank ist? Soll sie sich Gewissheit verschaffen und den Zweitschlüssel von zu Hause holen, um in Jelenas Zimmer zu gelangen?
Jörg sitzt vor dem Fernseher, sieht eine Sportsendung und blickt auf, als sie das Wohnzimmer betritt.
»Wie steht’s mit Abendbrot«, fragt er.
»Super«, erwidert sie. »Sag Bescheid, wenn es fertig ist.«
Er runzelt die Stirne und schüttelt missbilligend den Kopf.
»Stell dir vor«, ruft sie aus. »Jelena ist nicht zur Arbeit erschienen. Hat sich auch nicht gemeldet, als ich an ihre Tür geklopft habe. Naja, sie ist nicht immer zuverlässig gewesen. Vielleicht übernachtet sie bei einem Freund. Aber morgen müsste ich sie als vermisst melden.«
Für einen kurzen Moment starrt er sie mit offenem Mund an. »Bestimmt ist sie bei einem Kerl. Mit der Polizei würde ich noch warten«, antwortet er und springt auf. Er wendet den Blick ab, als er sagt: »Muss noch was erledigen.«
Dann hastet er aus dem Raum. Im Flur hört sie ihn aufgeregt telefonieren. Die Gartentür wird zugeschlagen, der Motor von Jörgs Volvo heult auf. Was ist mit ihm los? Warum hat er es plötzlich so eilig?
Sie hat ein ungutes Gefühl. Sie entschließt sich, später zum Haus fahren und nachzusehen, ob Jelena gekommen ist. Vielleicht findet sie Hinweise in deren Zimmer, wo sie sich aufhält.
Es ist heiß, sie fühlt sich verschwitzt und hat das Bedürfnis nach einer kurzen Dusche. Mit Genuss lässt sie das kalte Wasser über ihren Körper fließen. Wenige Minuten später frottiert sie sich ab und zieht sich an. Noch mit feuchtem Haar nimmt sie den Zweitschlüssel vom Bord und steckt ihn in die Handtasche. Sie läuft auf die Straße zu ihrem Auto und fährt los.
Als sie ankommt, sieht sie direkt vor dem Haus der Reinigungskräfte einen Volvo parken. Zwei Männer verlassen gerade das Grundstück durch die Gartenpforte. Beim Näherkommen erkennt sie Jörg und Sven. Was wollen die beiden hier? Tina parkt ein und im gleichen Moment fahren Jörg und Sven mit dem Volvo los. Sie betritt das Haus und stellt fest, dass die Kellertür neben der Küche offensteht.
Es rührt sich nichts, als sie an Jelenas Tür klopft. Sie schließt auf. Jedes Mal ist sie beschämt, wenn sie ein Zimmer der Reinigungskräfte betritt und ihr bewusst wird, wie schäbig die Räumlichkeiten ausgestattet sind. Darüber können auch die Bemühungen der Frauen nicht hinwegtäuschen, ihre Umgebung mittels Sofakissen und Wandschmuck zu verschönern. Wenn es um den Kauf neuer Möbel ging, blieben Jörg und Manuela hart. Schließlich sei es schon der reine Luxus, dass jede Reinigungskraft ein eigenes Zimmer bewohne, argumentierten sie.
Jelenas Raum enthält einen schiefen Schrank, einen Tisch mit zerkratzter Platte, zwei Stühle und ein schmales Bett, das unberührt ist. Sie scheint woanders übernachtet zu haben. Es ist schon vorgekommen, dass eine der Frauen, ohne zu kündigen, bei einem anderen Arbeitgeber eine neue Arbeit begonnen hat oder in ihr Heimatland zurückgefahren ist. Aber das trifft hier offensichtlich nicht zu. Gerahmte Fotos von Freunden oder Verwandten stehen auf dem Bord und der Schrank enthält Kleidung und ordentlich gestapelte Unterwäsche. Unter den Dessous findet sie eine Brieftasche mit Jelenas Pass. Sie fotografiert die erste Seite mit ihrem Handy. Dann nimmt sie ein Kleid vom Bügel. Versace. Auch die anderen Kleider stammen aus namenhaften Modehäusern. Sie fährt mit dem Finger über den obersten Pullover im Regal. Eindeutig Kaschmir, teures Kaschmir. Nicht die zweitklassige Sorte, die sie trägt und die regelmäßig rasiert werden muss, weil sich Knoten bilden. Woher hat Jelena das Geld, sich so hochwertige Kleidung zu kaufen? Hat sie einen reichen Freund, bei dem sie sich gerade aufhält? Nur in einem Fach findet sie Arbeitskleidung.
Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagener Terminkalender.
»21: 00 Blue Hour Bar« ist unter dem gestrigen Datum eingetragen. Tina macht mit ihrem Handy ein Foto von der Eintragung. Sie schaut sich im Raum um. Lag auf dem Boden, wie auch in allen anderen Zimmern, nicht ein Flickenteppich? Er ist verschwunden, die Holzdielen sehen frisch gereinigt aus. Ihr Blick fällt auf das Foto auf dem Bord. Ein herzförmiges Gesicht mit großen, dunklen Augen, Jelena lacht glücklich. In einer spontanen Eingebung steckt sie das Foto in die Tasche.
Bevor Tina am nächsten Morgen die Frauen abholt, sieht sie noch einmal nach Jelena. Als sie das Zimmer aufschließt, traut sie ihren Augen nicht und wankt einen Schritt rückwärts. Sämtliche persönlichen Gegenstände fehlen. Sie öffnet die Schranktür. Auch die Kleider und Pullover sind verschwunden. Dann entdeckt sie auf dem Bett einen Brief.
Mir sehr leidtun. Aber muss Polen. Mama krank.
Viele Grüße
Jelena
Das Papier ist zerknittert und der Brief in einer krakeligen Handschrift verfasst. Warum hat sie sich nicht verabschiedet? War sie zu sehr in Eile? Oder hat sie gelogen und ist nicht bei ihrer Mutter, sondern zu einem Mann gezogen? Tina seufzt tief. Wo bist du Jelena? Ihr Magen verkrampft sich vor Sorge.
Kapitel 5
Am Nachmittag erwartet Kathrin die Reinigungskräfte. Einer der Leitsätze von Tante Erika kommt ihr spontan in den Sinn. »Das Personal muss man wie Könige behandeln, das hat schon meine Großmutter gesagt.« Kathrin hat bisher keinerlei Erfahrungen mit Dienstpersonal, aber es leuchtet ihr ein, dass Menschen, denen Beachtung entgegengebracht wird, ansprechbarer sind. Sie backt leidenschaftlich gerne. Alles was sie darüber weiß, hat sie von der Tante gelernt. Leider hat sie in den letzten Monaten viel zu wenig Zeit zum Kochen und Backen gehabt. Es wäre ein guter Einstand, die Leute nach getaner Arbeit mit der Aprikosen-Torte, ein Rezept der Tante zu bewirten. Wie gut, dass sie alles, was sie für die Zubereitung braucht, aus Berlin mitgebracht hat.
Sie eilt in die Küche und sucht die Zutaten für den Teig zusammen. Sie schneidet die kalte Butter in kleine Stücke, fügt Zucker, Mehl und ein Eigelb hinzu, verknetet alles rasch zu einem glatten Teig und formt eine Kugel, die sie in Folie wickelt und in den Kühlschrank legt. Jetzt müssen noch die Rosinen in Calvados mariniert werden.
Da klingelt es an der Haustür.
Eine schlanke Frau, die dunklen Haare zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über der Schulter hängt, steht ihr gegenüber. Sie trägt eine große blaue Leinentasche in der Hand und mustert Kathrin freundlich.
»Hallo, ich bin Tina Schreiner. Mein Mann war schon vor zwei Tagen mit unserem Personal da.«
Hinter ihr erscheinen vier Frauen mit Staubsaugern und einem Dampfreiniger. Tina stellt sie vor. Kathrin gibt allen die Hand und hält die Tür weit geöffnet.
Tina Schreiner geht an ihr vorbei. »Freut mich, sie kennenzulernen. Ich war früher häufiger hier. Meine Mutter hat vor Jahren ab und zu für ihre Tante gearbeitet.«
»Perfekt«, ruft Kathrin aus. »Dann brauche ich Ihnen nichts zu erklären. Die Küche müssen Sie nicht reinigen. Ich backe gerade für uns Tante Erikas berühmte Aprikosen-Torte.«
Die Gesichter der Frauen hellen sich schlagartig auf. Sie teilen sich, nach Anweisung von Tina Schreiner, die einzelnen Räume auf. Als Kathrin in die Küche zurückgeht, dringen bereits das Klappern von Eimern und Putzgeräusche aus den Räumen.
Kathrin füllt den Teig in die Springform, belegt ihn mit den aufgeschnittenen Aprikosen und schiebt die Form in den vorgeheizten Ofen. Schon nach kurzer Zeit zieht ein köstlicher Duft durch das Haus. Warum sollen allein die Rosinen im Teig mit Calvados verwöhnt werden? Jetzt, da die Arbeit beendet ist, genehmigt sie sich ein Gläschen Calvados.
Tina steckt den Kopf zur Tür herein.
»Ah, das gute alte Rezept. Es riecht genau wie früher. Köstlich. Wir sind bald fertig.«
Kathrin findet in dem Wandschrank im Flur eine rotkarierte Tischdecke, mit der sie den Küchentisch bedeckt. Allerdings passen die Teller und Tassen nicht zueinander. Sie gibt sich Mühe, dem Tisch mit Stoffservietten und einer Kerze eine festliche