Als sie den Ort hinter sich gelassen haben, blitzt für einen kurzen Moment der See durch die Bäume. Dann verwehren hohe Hecken den Einblick.
»Stop, wir sind da«, sagt sie unvermittelt.
Kaum hat Frank angehalten, da springt Kathrin aus dem Auto und schlägt die Tür mit Schwung hinter sich zu. Sie läuft auf das schmiedeeiserne Tor zu, den großen Schlüssel in der Hand. Das Schloss leistet einen kurzen Widerstand, bis das Tor nachgibt und mit einem Seufzer nach innen schwingt.
Zwischen den Pflastersteinen im Innenhof wuchern Gras und Moos. An der gelben Backsteinfassade ist der Wilde Wein fast bis zum Dach hinaufgeklettert und hat einige Fenster vollständig bedeckt.
Das Eingangsportal ist von Sockeln flankiert, auf denen die steinernen Löwen sitzen, den Blick in die Ferne gerichtet.
Da steigen Bilder aus der Vergangenheit auf, Bilder von unbeschwerten Ferientagen in ihrer Jugend. Sie meint, Stimmengewirr und Lachen aus der Küche zu hören. Die Tante eine Frohnatur macht ihre Scherze mit Mutter. Der Duft von frischgebackenem Kuchen liegt in der Luft.
Kathrin schreckt aus ihren Tagträumen, als Frank neben ihr zwei Reisetaschen auf den Boden fallen lässt.
»Wow, das habe ich mir wesentlich kleiner vorgestellt«, sagt er sichtlich beeindruckt. Sein Blick wandert über die Fassade. »Du hast mir verschwiegen, dass du ein richtiges Gutshaus geerbt hast, mit unzähligen Zimmern.«
„Es sind sechszehn, genau sechszehn Zimmer“, entgegnet Kathrin. Sie dreht sich zu ihm um. Es ist etwas in seinem Blick, was ihr nicht gefällt: sein interessierter Maklerblick. So sieht er aus, wenn er ein einträgliches Geschäft wittert.
Sie umarmt ihn. »Ach bitte, lass uns die nächsten Tage einfach abschalten, nur Urlaub machen, ohne an den Job zu denken.«
Er nickt geistesabwesend. Kathrin löst sich von ihm. Was ist mit ihm los? Begeisterung sieht anders aus.
Die Eingangstür lässt sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Frank stellt die Reisetaschen ab, sucht umgehend nach dem Sicherungskasten und drückt auf den Knopf für die Hauptsicherung.
Eine große Jugendstildeckenleuchte aus weißem Glas verbreitet ein sanftes Licht in der Halle. Franks Blick wandert über die getäfelten Wände und den Parkettboden.
»Unglaublich«, ruft er aus. Er sieht sie an. »Wir sollten uns beeilen, und bevor es dunkel wird, wenigstens die Küche und unsere Schlafzimmer in einen brauchbaren Zustand versetzen. Es wird vermutlich hier eher eine Art Picknick, als ein Urlaub.«
Sie nehmen die restlichen Taschen aus dem Kofferraum und tragen sie in den Flur. Er streichelt ihren Arm. »Bitte sei nicht enttäuscht, wenn ich allein schlafen will. Ich brauche meinen Schlaf ganz dringend. Ich werde mir im Erdgeschoss ein Zimmer suchen, damit ich dich nicht störe. Muss heute noch ein paar wichtige Telefonate erledigen.«
Kathrin seufzt tief. »Dann werde ich mich eben in meinem alten Zimmer oben einquartieren«, antwortet sie kurz angebunden. Natürlich ist sie enttäuscht. Was glaubt er denn? Warum verhält er sich die ganze Zeit schon so distanziert? Sie beschließt, ihn für den Rest des Tages zu ignorieren. Soll er sich doch sein Abendbrot selber machen.
In welchem Zustand sich das Haus wohl befindet? Es ist ja schon seit Jahren nichts mehr renoviert worden.
Im Erdgeschoss schlägt ihr muffige Luft entgegen und sie öffnet die Fenster. Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, wandert sie von einem Raum zum anderen. Einige Wände müssten ausgebessert werden oder brauchen einen frischen Anstrich, eine neue Tapete.
In der Küche bleibt sie einen Moment lang überrascht stehen. Auf den schwarzweißen Fliesen sind deutliche Abdrücke von Schuhsohlen zu erkennen. Jemand muss sich erst kürzlich hier aufgehalten haben. Vielleicht der hilfsbereite Nachbar, der einen Schlüssel zum Haus hat? Auf dem Tisch liegt ein Flyer von dem Reinigungsservice, der vermutlich für den Onkel gearbeitet hat. Sie nimmt ihn und pinnt ihn an ein Regal.
Als sie den Kühlschrank anstellt, bemerkt sie eine Bewegung am Fenster. Frank saust in seinem Jogginganzug vorbei. Für seinen blöden Sport findet er immer Zeit, nur nicht für mich, denkt sie. Sie lässt ihren Ärger an dem Staub auf dem Tisch aus und wischt noch energischer. Auf der Tischplatte werden jetzt Brandflecke von Töpfen, Schnitte von Messern sichtbar. Einen Moment lang hält sie inne und denkt an die Abende, die sie hier mit den Eltern als sie noch lebten und Onkel und Tante verbracht hat.
Danach trägt sie ihre Reisetasche in das Zimmer im Obergeschoss, das sie früher in den Ferien bewohnt hat. Auch hier riecht es nach abgestandener Luft und nach Vergangenheit. Sie stößt die Fensterläden auf und ist verzaubert von dem Anblick des Sees in der Abendsonne.
Soweit sie sich erinnert, hat sich in ihrem Zimmer nicht viel verändert. Der halb blinde Spiegel zeigt verschwommen die Umrisse ihrer zierlichen Gestalt mit dem schulterlangen roten Haar. Im Regal entdeckt sie ein Fläschchen mit schwarzem eingetrocknetem Nagellack, zurück geblieben von einem Ferienaufenthalt. Damals war sie gerade siebzehn geworden, ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewusstsein. Sie war davon überzeugt, alles erreichen zu können, was sie nur wollte. Denn sie war nicht nur besonders clever, sondern zeichnete sich auch durch eine interessante, vielschichtige Persönlichkeit aus. Damals hatte sie viel gelesen. Unter anderem hatte sie sich mit Fragen des Existenzialismus auseinandergesetzt, war auf Sartre, Camus und de Beauvoir gestoßen, deren Philosophie sie faszinierte. Grundsätzlich hatte sie damals nur schwarze Kleidung getragen, wie ihre Vorbilder. Und Jazz gehört. Auch färbte sie sich die Haare schwarz. Bei den meisten Gleichaltrigen, stieß sie auf Unverständnis. Die spöttischen Bemerkungen über ihr Äußeres ließ sie mit gespielter Gleichgültigkeit über sich ergehen und schwelgte in der tragischen Rolle des Andersseins.
Die ganze Welt gehörte ihr, davon war sie überzeugt. Diese optimistische Einstellung, sollte in den kommenden Jahren leichte Risse bekommen. Aber daran will sie jetzt nicht denken.
Sie ermahnt sich dazu, das Bett zu beziehen, bevor sie die Lust ganz verlässt. Eine gründliche Reinigung sollen die Reinigungsleute vornehmen, die Frank bestellt hat.
Es wird dunkel, und sie lässt sich mit einem Teller Salat und einem Glas Rotwein auf der Holzbank vor der Tür nieder. Dies war für sie immer der schönste Augenblick des Tages gewesen, wenn das Licht am Himmel verblasste und ein Sternenhimmel hervortrat, den man so intensiv in der Stadt nicht sah.
Was soll sie mit dem Haus machen? Es ist ein gutes Gefühl Hausbesitzerin und reich zu sein, es gibt Sicherheit. Sie gerät ins Träumen. Hier, fern vom Großstadtstress würden Frank und sie sich wieder näherkommen, indem sie mehr Zeit miteinander verbrächten. Sie könnten im See schwimmen, mit den mitgebrachten Rädern über die Dörfer fahren, in einfachen Gasthäusern essen, den Garten neu gestalten. Und vielleicht fände er Gefallen an der Natur, am Landleben. Im Haus wäre ausreichend Platz für ein Büro, ohne eine horrende Miete bezahlen zu müssen wie in Berlin. Und – dieser Gedanke schleicht sich jetzt ein – sie hätte ihn besser unter Kontrolle. Mit einem Mal überkommt sie das Verlangen, nahe bei ihm zu sein, sich an ihn zu schmiegen, zu spüren, wie er sie hält. Soll sie zu ihm gehen, ihren Stolz überwinden? Nein sie hat schon zu viele Zugeständnisse gemacht.
Die Lampe über der Tür wirft einen matten Schein in den Innenhof, sie lauscht den Geräuschen der Nacht. Ein aufkommender Wind fährt in das Blätterwerk der Kastanie im Hof. In den Büschen, die die Backsteinmauern säumen, raschelt es. Nachttiere sind unterwegs und begeben sich auf die Jagd. Erst nach einer Weile dringt zu den Geräuschen im Hof eine gedämpfte Stimme aus dem Haus zu ihr herüber. Frank ist von seiner Joggingrunde zurückgekehrt und geht seiner Lieblingstätigkeit dem Telefonieren nach. Beim Näherkommen hört sie ihn durch die offene Terrassentür sagen:
»Nein Sie stören nicht. Das ist ja wichtig. Komme zurück, so bald ich kann.« Danach senkt sich Stille über das Haus.
Katrin seufzt. Mist. Da hat sie sich falsche Hoffnungen gemacht. Das hört sich nicht nach einem entspannten, gemeinsamen Urlaub an.
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