Gisela Witte
Still ruht der See
© 2021 Gisela Witte
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-347-26692-6 |
Hardcover: | 978-3-347-26693-3 |
e-Book: | 978-3-347-27267-5 |
Lektorat: Heidi von Plato
Covergestaltung: U.B. Bauer
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Prolog
Heute will ich eine Antwort. Ich berühre ihn sanft an der Schulter.
»Wie geht es Ihnen?«
Der alte Gutsherr schlägt die Augen auf und blinzelt. »Ach, du bist es«, flüstert er nach einem kurzen Moment. »Schön, dass du mich besuchst.« Ächzend richtet er sich auf. »Ist noch jemand da?«, murmelt er und sieht sich unsicher im Raum um. Wen erwartet er?
Er wirkt enttäuscht, als er sich auf sein Kissen zurücksinken lässt. »Ich dachte, meine Nichte besucht mich endlich.«
Da kann er lange warten, die hat Besseres zu tun. Die arrogante Schnepfe ist mit sich selbst beschäftigt. Prüfend mustert er mich. Sein Atem rasselt, als er hustet. »Du hast damals unseren Garten in Ordnung gehalten. Warst immer so fleißig. Hab dich immer gemocht.«
Seine blau geäderten Hände wandern auf der Bettdecke hin und her. Er schließt die Augen. Wie kann ich ihn wachhalten? Er soll mir antworten, bevor er wieder weg nickt. Ich berühre ihn sanft am Arm. Mein Mund ist trocken, ich krächze fast: »Stimmt es, dass wir … blutsverwandt sind?«
»Hast du was gesagt, Junge?«
»Sind wir miteinander verwandt?«, frage ich etwas lauter.
Einige Minuten liegt er regungslos mit geschlossenen Augen da. Sollte er eingeschlafen sein? Da schüttelt er kaum merklich den Kopf. »Ich weiß, was du meinst. Waren alles nur Gerüchte. Daran ist nichts.« Er schmatzt leise vor sich hin. „Wasser. Gib mir einen Schluck Wasser.“
Ich reiche ihm das Wasserglas, warte, bis er es fest in der Hand hält, und stütze ihn beim Trinken. Er trinkt das Glas vollständig leer und streckt es mir entgegen. Ich nehme es ihm ab. Danach lässt er sich zurückfallen.
Wenn er doch endlich weiterredete!
»Gerüchte können Wahres enthalten. Also wie war das mit dem Gerücht?«, frage ich ihn munter, als ginge es um etwas Heiteres. Am liebsten würde ich den Alten schütteln.
»Ach ja.« Er leckt sich die Lippen. »Mein Vater, er liebte das Leben.« Er lacht, das Lachen geht in ein Husten über. Nach einem kurzen Moment fasst er sich und hebt seinen dünnen Zeigefinger in die Höhe. „Also, er liebte das Feiern und den Wein. Aber er hätte niemals was mit dem Personal angefangen. Meine Mutter … « Er bekommt einen weiteren Hustenanfall. »Die Köchin Frieda, deine Großmutter, wurde schwanger … Hat nicht verraten von wem. Sie haben ihr angeboten zu bleiben, auch mit dem Kind. Aber sie ist dann nach Berlin … « Der alte Mann schließt die Augen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich im schnellen Rhythmus des rasselnden Atems.
Ich will mehr erfahren. Warum redet der Alte nicht weiter. Wen sollte ich sonst fragen? Mutter weigerte sich immer, darüber zu sprechen. So kann ich mir nur zusammenreimen, was er sagen wollte.
Der alte Mann, der für einige Minuten weggenickt war, ist wieder wach und fixiert mich aus tiefliegenden, blassblauen Augen an. »Du bist so ein guter Junge. Hast mich die ganze Zeit im Heim besucht. Niemand hat sich sonst um mich gekümmert.« Er nuschelt. »Hast mir Blumen mitgebracht. Ich mag Blumen. Früher auf meinem Schreibtisch … « Seine Worte verlieren sich.
Er dreht mir den Kopf zu und wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. »Weißt du was? Sollst das Haus erben. Hast du dir verdient. Nächstes Mal … Notar … «
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das sich in mir ausbreitet. Endlich spüre ich Boden unter meinen Füßen. Wenn ich das Haus erbe, gehöre ich zu ihnen, zur Gutsbesitzerfamilie, selbst wenn sie es nicht wollten. Mir wird heiß und mein Herzschlag beschleunigt sich.
Der alte Herr will noch etwas sagen. Er hustet, seine Stimme versagt, seine Hand, fällt auf das Bett zurück, der Kopf kippt zur Seite.
»Nein, nicht!«, entfährt es mir. Ich beuge mich über ihn. Seine Augen starren ins Leere, das Rasseln des Atems versiegt. Ich lege eine Hand auf seine Halsschlagader. Hat sein Herz aufgehört zu schlagen? Das darf nicht sein. Warum muss er ausgerechnet jetzt sterben?
Kapitel 1
In der letzten Stunde haben sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Frank hält das Steuerrad mit beiden Händen fest umspannt, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Zu gerne würde sie wissen, was er denkt.
Kathrin sieht ihren Mann von der Seite an: die grade Nase, das kantige Kinn, die vollen dunklen Haare, mit den ersten Spuren von Grau, wie immer von einem erstklassigen Friseur geschnitten.
»Niemals habe daran gedacht, dass ich das Gutshaus eines Tages erben werde«, sagt sie.
Frank gibt nur ein schwer einschätzbares Brummen von sich.
Kurz vor Potsdam hält er an einer Tankstelle. Nachdem er getankt hat, verschwindet er im Laden. Wo bleibt er nur so lange? Kathrin steigt aus dem Auto und sieht sich um. Da entdeckt sie ihn halb verdeckt von einer Zapfsäule, wie er telefoniert.
Erst nach einer Weile kehrt er zurück und setzt sich neben sie. »Musste lange an der Kasse warten«, murmelt er mit einem kurzen Seitenblick und startet den Wagen.
Sein Gesicht verrät keinerlei Gefühlsregung. Er sieht wieder geradeaus auf die Straße.
Sie sind jetzt auf der B2. Hier muss es gewesen sein. Sie spürt, wie sie Atemnot bekommt. Sie lässt das Seitenfenster herunter.
«Halte bitte einen Moment an.«
»Was ist los«, fragt er.
»Mir ist schlecht. Hier war der Unfall.«
Frank hält an der nächsten Weggabelung. Sie stolpert aus dem Auto, geht langsam einige Schritte hin und her und atmet tief durch. Der Würgereiz lässt nach.
»Jetzt geht es wieder«, sagt sie und steigt in das Auto.
»Dass dich der Autounfall deiner Eltern immer noch so mitnimmt.« Er schüttelt den Kopf. »Das ist doch inzwischen fast fünf Jahre her.«
»Aber seither habe ich diese Strecke gemieden.«
Warum reagiert er so unsensibel? Warum kann er ihre Gefühle nicht nachvollziehen?
Sie fahren weiter. Kathrin starrt aus dem Fenster und unterdrückt mühsam ihre Tränen.
»Gleich sind wir da«, sagt sie auf einmal. In ihrer Stimme schwingt freudige Erwartung. Sie haben den Ort Seddin erreicht und Frank verringert das Tempo. Kathrin erinnert sich noch an die vielen Schlaglöcher von damals, aber jetzt gibt es eine neue Asphaltstraße. Sonst hat sich der Ort wenig verändert. Dicht beieinanderstehenden Häuser und der Platz mit der Kirche ziehen an ihnen vorbei. Das Café in der Hauptstraße ist geöffnet und rote Sonnenschirme leuchten ihnen entgegen.
Kathrin entdeckt ein neues Haus mit weiß gestrichenen Wänden und mit blau glasierten Ziegeln, umgeben von einem Rosengarten - ein wahrer Exot zwischen den Gebäuden aus Backstein, den Fachwerkhäusern und den Scheunen.
»Ich bin gespannt, in welchem Zustand wir alles vorfinden werden. Seit Onkel