De Breukelen nickte verbissen. »Eindeutig.«
»Ist er … jetzt tot? Endgültig?« Van Royen hatte sich verkrampft. Der Vorfall musste den beherrschten Mann enorm verunsichern. Aber De Breukelen war ehrlich genug zuzugeben, dass es ihm kein bisschen besser ging.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. Er deutete auf ein leichtes, rötliches Flackern, das über einige Metallbeschläge huschte. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass das nicht das Letzte war, was wir von Mister Stevenson gesehen haben.«
Als die Queen einige Tage später Brest erreichte, wusste es bereits jeder an Bord. Die Steampunk Queen hatte ein neues Besatzungsmitglied. Den Geist des unglücklichen Alan Stevenson …
Christian Künne: Thalassas salzige Tränen
Eines Nachts starb das Meer
von einem Ufer zum andern,
sich faltend, schrumpfend,
ein Mantel, den man fortnimmt.
Der Tod des Meeres, Gabriela Mistral
19. Mai
Marseille im Rücken nehme ich die Steampunk Queen in Augenschein, suche nach den Schatten zwischen den Decks und betrachte die verzerrten Bildnisse der Schaufelräder auf dem Schiffsrumpf, die durch das Licht der Hafenlaternen erzeugt werden. Groteske Mäuler mit spitzen Zähnen.
Das Rasseln der Industrieanlagen ergänzt das Bild, es fehlen nur die aufsteigenden Rauchschwaden. Die Kessel der Steampunk Queen scheinen noch nicht voll angeheizt zu sein, das Dröhnen der Dampfmaschinen ist abwesend. So bleiben nur die Schattenbilder und der Trug des Schiffs. Mein Zuhause für die nächsten Tage, unfreiwillig, aber notwendig.
Ich nehme meinen Koffer in die Hand und mache mich auf den Weg zur Gangway. Unten wartet ein Mitglied der Mannschaft, wünscht: »Bon soir!«
Ich nicke nur und reiche ihm meine Fahrkarte. Auf Nachfragen nenne ich ihm einen Namen für die Passagierliste: »Kelvin Potamoi.« Er spielt keine Rolle, ich nutze ihn nur für die Kreuzfahrt.
»Die Begrüßung der Passagiere hat erst vor wenigen Minuten begonnen.« Mit einem Lächeln gibt er mir meine Fahrkarte zurück.
Ich nicke wieder und spreche dann doch ein paar Wörter, als er einen Kabinenjungen herbeiwinken will. »Danke, mit dem Koffer werde ich allein fertig.« Dann laufe ich die Gangway hinauf an Deck der Steampunk Queen.
Das Begrüßungszeremoniell interessiert mich nicht, so wende ich mich gleich ins Innere des Schiffs und suche nach meiner Kabine. Die Beschilderung ist verständlich und der Teppich auf den Fluren verschluckt meine Schritte.
So finde ich schnell und unauffällig meine Kabine, öffne die Tür und trete in das geräumigste Zimmer einer zweiten Klasse, das ich je gesehen habe. Doch die moderne und verspielte Einrichtung kann nur für einen Augenblick meine Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Ich werfe den Koffer auf das Bett und schlüpfe aus meinem Mantel, der neben dem Koffer landet. Mit einem leichten Seufzen balle und öffne ich die Fäuste. Fast scheint mir, als würde Dampf aus ihnen entweichen. Doch das ist nur Einbildung. Das Zischen rührt woanders her.
Ich knie mich vors Bett und ziehe den Koffer heran, lasse die Verschlüsse aufklappen. Ich öffne den Koffer und hebe vorsichtig den mechanischen Würfel heraus. Er ist kaum größer als meine Faust, aber schwer. Fein gearbeitete Platten zeichnen sich unter den Verzierungen ab, ein komplexer Schließmechanismus hält den Würfel in seiner Form.
»Hallo, Thalassa«, flüstere ich.
Der Würfel ist mehr als ein mechanisches Kunstwerk. Er ist ein Behältnis. Vielleicht eher ein Gefängnis. Dort drin ist das Meer selbst. Die mediterrane See, ihr Geist, ihre Seele. Thalassa.
Zwischen den feinen Platten des Würfels quillt ein Tropfen hervor. Es ist eine ihrer salzigen Tränen. Mit dem Daumen streiche ich sie weg und führe ihn zu den Lippen. Koste die Träne. Schließe die Augen bei diesem salzigen Geschmack. Schließe die Augen, um ihre Bilder in mich aufzunehmen.
20. Mai
Ich war für wenige Minuten an Deck, doch wurde von der Geschwätzigkeit einer älteren Dame ins Innere verjagt. Die Sonne verursachte ohnehin Kopfschmerzen und von der Reling aufs Meer zu blicken, war nicht sonderlich erbauend.
Mir ist jedoch klar geworden, dass ich mich hier an Bord der Steampunk Queen unauffällig einfügen kann. Meine verschrobene Persönlichkeit und meine Unkenntnis sozialer Gepflogenheiten fallen hier nicht ins Gewicht. Ein Blick auf die Passagiere und die Mannschaft hat mir diese Erkenntnis gebracht.
Am Morgen ist die Leiche der Schiffseignerin von Bord gebracht worden. Der erste Tod, bevor die Überfahrt überhaupt beginnt. Zu kümmern scheint das keinen. An Bord wird ausschweifend die Freizeit genossen und einige der Passagiere unternehmen einen Ausflug zur Île d’If in die alte Gefängnisanlage.
Ich nehme den Würfel zur Hand, wische die hervorquellende Träne ab und koste ihren Geschmack. Ein Gefängnis für das Meer. Ja, ein Gefängnis, so muss ich es wohl nennen.
Ich habe sie eingesperrt. Es war eine lange Suche, bis ich sie fand. Thalassa mir nach all den Mühen in die Falle ging. Nicht weit von hier, in der Stadt Marseille, im Delta der Rhone stieg sie aus einem der Etang der Camargue, der Marschlandschaft zum Mittelmeer. Halb durchsichtig, den gehörnten Kopf stolz erhoben, angstfrei auf mich blickend. Und dann war da der Würfel, entfaltet zu ihren Füßen, auf den sie trat, der sich schloss, sie in sich aufnahm und einsperrte. Die unbestechliche Mechanik arbeitete wie vorgesehen.
Jetzt ist sie hier, meine Thalassa, und reist einmal über das Meer, über sich selbst. Von Nord nach Süd, von West nach Ost. Der Weg, um sie zu bändigen. Mich ihrer Macht zu bedienen.
Ich höre das Ausflugsboot, diesen leicht stotternden Dampfmotor. Die Ausflügler haben die Gefängnisinsel verlassen und kehren zurück.
»Du musst nicht auf einem kargen Felsen ausharren«, flüstere ich und weiß, dass ihr Dasein in dieser Kabine, in diesem Würfel, so nah dem Meer, wenige Meter über der Oberfläche, vergleichbar mit einem Ausharren auf der Felseninsel ist. Ein lichtloser Kerker, das Geräusch schlagender Wellen.
21. Mai
Wir erreichen Genua und ich blicke aus dem Bullauge auf die historienreiche italienische Stadt. Demonstranten brüllen uns lautstark ihre Parolen entgegen. Es liegt der widerliche Gestank eines politischen Umsturzes in der Luft.
Die Regeln ändern sich, der Rahmen ändert sich. »Das gilt auch für dich.« Ich habe den Würfel in der Hand und stelle mir Thalassa vor, ihre ungreifbare Form, nun eingeschlossen. Nur ihre Tränen treten hervor, langsam, aber stetig. Ich trinke sie, jede einzelne, und die Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Und mehr noch.
Das Bullauge ist geschlossen, und doch nehme ich jedes einzelne Wort der Faschisten dort im Hafen wahr. Ich rieche den Rauch, der auf und über der Stadt liegt, höre die Dampfwagen, wie sie durch die Straßen stampfen.
Das Schiff selbst hat sich verändert, auch hier gibt es neue Regeln, eine neue Situation. Diebe, die durch die Flure schleichen, Spione und Mörder, Ermittler und solche, die sich dafür halten. Ich höre sie alle in der Nacht, neben dem Rauschen der Postzylinder in den Rohren, das Stampfen der Kolben der Maschinen, das Zischen entweichenden Dampfs. Und das Umpflügen des Meeres durch die Schaufelräder, rhythmisch, aber nicht weniger aufwühlend.
Es ändert sich alles, im Kleinen wie im Großen. Draußen sind die italienischen Faschisten und greifen alsbald nach der Macht. Auf dem Schiff wird der Dekadenz gefrönt, auf den Tod angestoßen und deutlich