Nachdem Lord Summer sicher war, keiner Halluzination zum Opfer gefallen zu sein, befahl er seinen Männern über eines der Gerüste nach oben zu klettern und zu schauen, wie die Steine dort befestigt waren. In der Höhe stellte ein altgedienter Soldat zu seiner Überraschung fest, dass die Steine anscheinend nicht aus dem Fels wuchsen, sondern an ihm klebten. Er griff nach einer etwa faustgroßen Kugel und konnte diese gegen einen gewissen Widerstand vom Gestein lösen. Nach seiner späteren Beschreibung fühlte es sich an, als wenn man einen Magnet von einem anderen löst.
Lord Summer erkannte blitzschnell, welch ungeheures Potenzial in diesen schwebenden Steinen lag. Vielleicht waren diese unscheinbaren Kugeln sogar wertvoller als Gold.
In den nächsten Jahren ließ er von speziell ausgesuchten Männern, denen er durch hohes Handgeld vertraute, Steine abbauen und heimlich nach Schottland transportieren, wo seine Familie ein Landgut besaß.
1904 kam es in der ehemaligen Mine aus ungeklärten Gründen zu einer Explosion, die drei Männer das Leben kostete. Dabei wurde der Eingang völlig verschüttet.
Jahre später, Lord Summer war inzwischen Brigadier und arbeitete beim britischen Geheimdienst Secret Service, lernte dieser den Schiffsbauingenieur Gordon MacKeldey kennen. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Der Lord hatte seit seiner Jugend eine große Liebe zu Schiffen, aber die Familientradition verhinderte seinen Eintritt in die Navy und er musste bei der Army dienen. Er fasste Vertrauen zu dem Schotten und erzählte von den schwebenden Steinen. MacKeldey erkannte sofort die Möglichkeiten für den Schiffsbau und die Chance, auf dem Wasser zu gleiten.
Zusammen mit dem bei ihm angestellten Maschinenbauingenieur Georg Gruber, einem deutschen Auswanderer, entwickelten sie die Möglichkeit, wie man mithilfe von Magneten die Steigfähigkeit der Steine erhöhen oder verringern kann. Damit war die neue Auftriebshilfe für Schiffe erfunden.
Man begann, von einer neuen Generation von Schiffen zu träumen. Aber es war klar, dass man nur mit einem Prototyp die solventen Investoren gewinnen konnte. Allein die Freilegung der verschütteten Mine würde ein Vermögen kosten.
Seit Lord Summer die Abenteuer des Tom Sawyer von Mark Twain gelesen hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als einen Mississippidampfer zu besitzen. Und wie es der Zufall oder das Schicksal bestimmte, war MacKeldey bereit, sein Huckleberry Finn zu sein. Die Welt würde staunen, einen solchen Dampfer auf den Meeren zu sehen.
1914 kam der große Krieg und Brigadier Lord Summer war mehr in London beim Secret Service als in Schottland.
So probierten und tüftelten Gordon MacKeldey und Georg Gruber allein wie zwei Verschwörer in einer verlassenen Werft in Greenock an der Umsetzung der Auftriebsmaschine für das Schiff. Erst als sie diese fertig hatten, begann man mit normalen Arbeitern den Bau des Schiffs, das nach Wunsch von Lord Summer Steampunk Queen heißen sollte.
Nach Kriegsende ließ sich der Lord beurlauben und zog auf das schottische Landgut seiner Familie. Seine Frau Beth war inzwischen schwer rheumakrank und dadurch opiumsüchtig geworden. Dennoch besuchte er mehrmals wöchentlich die Werft in Greenock.
Seine Tochter Gravity, die inzwischen freie Mitarbeiterin des Secret Service geworden war, teilte seine Begeisterung für das Schiff. Allerdings hasste sie ihren Vornamen und nannte sich nach diesem befragt stets Vity.
Vity zeigte sich als äußerst talentiert und kreativ und trug mit ungewöhnlichen Ideen zur Entwicklung der Steampunk Queen bei. Sie machte den Vorschlag der ausfahrbaren seitlichen Stabilisatoren, die den von ihr so genannten »Seeroseneffekt« bewirken, das sanfte Schwimmen auf einer bewegten Wasserfläche.
Wegen der Krisensituation nach dem großen Krieg und der Spanischen Grippe wurde Lord Summer aufgrund des zunehmenden Personalmangels in die Zentrale nach London berufen. Doch leider erkrankte auch er und verstarb im Februar 1919.
Da die Frau des Brigadiers schwer leidend war, erbte seine Tochter Gravity direkt Titel und Vermögen. Die Witwe wurde von da an Lady Mum genannt. Es wird vermutet, dass das britische Königshaus sich später an dieser Bezeichnung orientierte.
Der Bau der Steampunk Queen in der Werft in Greenock machte gute Fortschritte.
Am 30. März 1920 geschah allerdings ein Unglück, bei dem ein Mann zu Tode kam. Dennoch konnte die Steampunk Queen noch 1920 unbemerkt von der Öffentlichkeit vom Stapel laufen.
Man hatte den Plan, eine lange Testfahrt von Schottland entlang der Küste von England und Wales bis zur Insel Jersey zu machen. Ihre pflegebedürftige Mutter nahm die Lady samt deren persönlicher Pflegerin Schwester Ann mit an Bord.
Alles auf dem Schiff funktionierte bestens, der Auftrieb leistete still und geräuschlos seine Dienste, die beiden Dampfmaschinen stampften zuverlässig. Die Ausstattung der Steampunk Queen war »state of the art«, die erste Klasse strahlte in purem Luxus und die zweite Klasse wäre auf vielen anderen Schiffen als erste akzeptiert worden. Für die weniger Betuchten wurde eine schlicht ausgestattete dritte Klasse angeboten. Auch junge Forscher sollten laut dem Vermächtnis des Lords die Chance haben, mit der Steampunk Queen zu reisen.
Man beschloss die Fahrt fortzusetzen und steuerte das französische Brest an. Es ging dem an Schwindsucht erkrankten Gordon MacKeldey zusehends schlechter und er verstarb im dortigen Krankenhaus. Georg Gruber übernahm, nach außen als Maschinist getarnt, die technische Leitung des Schiffs.
In Brest ergänzte die Eignerin Lady Summer die Mannschaft und heuerte unter anderem den Chefkoch Jean-Baptiste Grande an, den sie von früheren Aufenthalten als Secret-Service-Agentin in Paris kannte.
Auf Anraten von Gruber setzte man die Testfahrt fort und fuhr weiter südlich nach La Rochelle. Von hier aus startete Lady Summer mit dem neuartigen Bildtelegrafen für eine Kreuzfahrt 1921 die Anzeigenwerbung in den großen Zeitungen europäischer Metropolen und in New York.
Bereits bei Erreichen des ersten spanischen Hafens Bilbao war die gesamte Reise ausgebucht. Während der ganzen Fahrt um die iberische Halbinsel bis nach Marseille arbeiteten alle Maschinen einwandfrei und selbst stärkerer Wind konnte dem Schiff nichts anhaben. Dennoch hatte Lady Summer, um jegliches Risiko zu vermeiden, das Kommando ausgegeben, dass während der Sturmsaison im Mittelmeer im September und Oktober das Schiff im Hafen bleiben musste.
Rainer Schorm: Der Geist des Alan Stevenson
28. März 1920, Palmsonntag
Greenock/Grianaig:
Werft »Scotts Shipbuilding
and Engineering Company«
19:13 Uhr
Lady Summer mochte ihr Büro nicht. Zwar war sie dankbar, dass ihr Scotts, die Inhaber einer der Werften von Greenock, die Räumlichkeit zur Verfügung stellten, aber das Warten auf den Stapellauf der Queen zehrte an ihren Nerven. Die Ingenieure hatten die beeindruckende Maschine beinahe komplett installiert, aber je näher der Stapellauf rückte, desto unruhiger fühlte sie sich.
Das Büro erlaubte keine direkte Sicht auf das Boot – das mochte der Grund für ihre Unzufriedenheit sein. Draußen war es bereits dunkel. Sie hörte den Regen aufs Dach der großen Halle prasseln, in der die Queen lag, eher an einen gestrandeten Wal erinnernd, als an das stolze Boot, das sie bald sein würde.
Es klopfte.
»Herein!«, sagte Lady Summer resolut. Sie wusste, dass sie in dieser Umgebung, keine Schwäche zeigen durfte. Handwerker, Ingenieure und Bootsbauer überhaupt, praktizierten ausgeprägtes Revierverhalten. Dass sie hier residierte, war für viele eine Zumutung; neue Zeit hin oder her.
Ein Mann