Ehe Andreas sich zu sträuben vermochte, befand er sich einer hübschen Frau gegenüber, die zwischen Ballmüttern in einem niedrigen Sofa lehnte. Sie trug eine dunkelviolette Seide, die auch einer älteren Dame angestanden hätte. Ihr volles braunes Haar war sehr schlicht geordnet. Sie hielt kein Lorgnon in der Hand, was Andreas beruhigte, und sie erwiderte seine Verbeugung mit einem reizend gütigen, fast mütterlichen Lächeln. Ihr Wesen hatte etwas ungemein Friedliches, von Eitelkeiten und Leidenschaften unberührtes. Sie bot das Bild einer anständigen Frau, die gerade in ein gewisses Alter eintritt.
»Ah, Herr Zumsee«, sagte sie, »ich muss Ihnen danken, Sie haben mir eine sehr freundliche Stunde bereitet. Ihr Beitrag in der ›Neuzeit‹ …«
Andreas traute seinen Ohren nicht, Frau Mohr hatte sein Gedicht im Beiblatt des »Nachtkurier« gelesen. Oder hatte nur Kaflisch, der so abscheulich grinste, sie davon unterrichtet? Man wusste hier ja nie, was man glauben durfte. Er stammelte einige Dankesworte. Neben ihnen begannen mehrere Paare zu walzen. Andreas fühlte sich verpflichtet, Frau Mohr zu bitten.
»Ich tanze eigentlich nicht«, versetzte sie, indem sie sich erhob.
Andreas glaubte, ein recht guter Tänzer zu sein, aber er befand sich auf fremdem Terrain. Das Parkett war zu glatt und die Schleppe zu lang. Als er seine Dame auf ihren Platz zurückgeleitete, sah er sich beschämt. Bei zwei Runden unter dem Kronleuchter war er dreimal aus dem Takt gekommen. Frau Mohr blieb dennoch ganz erstaunlich liebenswürdig, Andreas konnte sich nicht früher von ihr verabschieden, als bis eine Dame sie in die Unterhaltung zog.
Kaflisch, der ihn erwartet hatte, ergriff sogleich wieder von ihm Besitz. Da Andreas plötzlich eine Art von Berühmtheit erlangt hatte, benutzte Kaflisch gern ihre alte Freundschaft, um sich mit ihm zu zeigen.
»Was wollte denn die Frau Mohr?« fragte Andreas unwillkürlich. Das einschmeichelnde Benehmen der hübschen Frau beunruhigte ihn tief. Er fühlte sich umworben und glaubte, mit seiner Gunst sparsam sein zu müssen. Frau Türkheimer musste der Überzeugung bleiben, dass sie die einzige sei, der er zu huldigen wünschte.
Kaflisch grinste.
»Glauben Sie, dass das Ihnen gilt? Nur nicht ängstlich, mein Bester. Die Mohr macht nur der schönen Hausfrau den Hof. Sie sind der neue Günstling, also muss Frau Mohr Ihre Freundin sein.«
»Warum denn?« fragte Andreas, nun doch ein wenig enttäuscht.
»Sie ist ’ne nachsichtige Frau, wissense. Sie nimmt Adelheid ihre Schwächen nicht übel. Unter Frauen, von denen jede ihre Schwächen hat, ist das manchmal so. Man gründet ein Konsortium behufs gegenseitiger Versicherung des guten Rufes. Verstehnse mich, sehr geehrter Herr?«
»Frau Mohr macht so ’nen anständigen Eindruck«, bemerkte Andreas. Kaflisch erklärte:
»Tut sie auch. Und sie hat auch ’ne förmliche Leidenschaft für Anständigkeit, wenn sie nur nicht Geld brauchte! Sehn Sie mal, unter allen denen, die hier herumwimmeln, kann ihr kein einziger was zu seinem eigenen Vorteil nachsagen. Was sie braucht, holt sie sich aus anderen Kreisen, noble Fremde oder Herren vom Hof, wissense. Kommt sie dann hierher, so ist sie in ’ner ganz anderen Welt. Hier kramt sie so viel gute Sitte aus, dass sie uns allen noch was davon abgeben könnte.«
»Komische Passion«, meinte Andreas.
»Gar nicht so übel«, versicherte Kaflisch. »Sie hält sich an Adelheid, weil die natürlich zu reich ist, als dass man sie belächeln könnte.«
Andreas zweifelte.
»Das scheint mir eine ganz unnötige Anstrengung zu sein«, bemerkte er.
»Junger Mann!« rief Kaflisch feierlich, »Sie kennen nicht die Willensstärke gewisser Frauen! Diese hier will nun mal für anständig gelten, und sie weiß es durchzusetzen, dass jeder, der ihre Lebensweise ganz genau kennt, sie so behandelt, als glaubte er an ihre Tugend, ’s ist eigentlich ’ne ungeheure Leistung von so ’ner Frau, wissense, und ganz ohne Profit, bloß der Ehre wegen. Sie mimt die Tugend, wie andere das Laster mimen.«
»So was gibt es auch?« fragte Andreas.
»Und ob! Sie werden hier im Hause die Frau Pimbusch kennenlernen.«
»Die Frau des großen Branntweinfabrikanten?«
»Dem Schnapsfeudalen seine Frau. Da werden Sie sehen, wie das Laster aussieht. Aber verbrennen Sie sich nicht die Finger, rate ich Ihnen! Sie ist unschuldig, nicht mal von Pimbusch hat sie sich ihre Unschuld rauben lassen. Er soll übrigens gar nicht dazu imstande sein.«
»Eine Frau muss sich doch recht sehr langweilen, wenn sie auf solche Dinge verfällt«, meinte Andreas. Kaflisch zuckte die Achseln.
»Was wollen Sie? Wir haben Nerven. Müde Rasse! wie Goldherz sagt. Alte Kultur! Gott, wie sind wir müde!«
Kaflisch versuchte, die Schultern tief zu senken. Er ließ die Mundwinkel herabhängen und begann mit mattem Blick vor sich hinzuträumen. Andreas befürchtete, man möchte die Nachahmung des Freiherrn von Hochstetten erkennen. Er suchte Kaflisch fortzuziehen, doch dieser blieb stehen. Sie befanden sich bei der Tür, hinter der früher der Hausherr mit einigen Gästen verschwunden war. Kaflisch machte eine Armbewegung, als setzte er eine eifrige Unterhaltung fort.
»Wissense was?« sagte er leise. »Nebenan wird gejeut. Sehnse sich das mal an!«
Er schob Andreas hastig vor sich her über die Schwelle und beeilte sich, den Vorhang hinter ihnen zufallen zu lassen.
Sie durchschritten ein Spiegelkabinett, ganz ähnlich dem, das als Vorzimmer des Claudius-Museums diente. Dann betraten sie ein weites Gemach, das zu zwei Dritteln leer stand. Auf den Diwans an den Wänden nickten zwei oder drei alte Herren, eine große Anzahl Gäste umdrängte dagegen das kreisrunde Geländer, das in geringem Abstände den gleichfalls runden Spieltisch umgab. Andreas bemerkte auf dem Tische ein äußerst sinnreiches horizontales Rad, dessen sieben Sprossen durch elfenbeinerne Pferdchen bezeichnet wurden. Es saßen kleine Reiterinnen, aus Silber, mit Perlmutter eingelegt, in meistens durchaus intimen Stellungen darauf. Nur Claudius Mertens konnte sie geschaffen haben.
»Haben Sie schon mal gespielt?« fragte Kaflisch.
Andreas hatte Lust zu lügen, fürchtete aber, darauf ertappt zu werden.
»Nein«, sagte er.
Kaflisch