Was passiert bei dieser Deaktivierung? Auf der somatischen Ebene wird im Kampf- oder Fluchtmodus beispielsweise die Verdauungstätigkeit runtergefahren. Auch die Sinnesaktivitäten werden stufenweise eingestellt, damit wir nicht durch die Blümchen auf der Wiese von der wahrgenommenen Gefahr abgelenkt werden.
So bewirkt das Umschalten auf den Kampf- oder Fluchtmodus, dass wir nicht mehr alles mit weitem Blick sehen, sondern fokussiert auf die Gefahr schauen und andere Dinge übersehen. Auch das Hörvermögen ist nachweislich so verändert, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes Dinge überhören. Das bedeutet, dass wir im getriggerten Modus freundliche Worte oder Gesten des Partners bzw. der Partnerin nicht wahrnehmen, sondern dass unser Sinnessystem suchend darauf ausgerichtet ist, den nächsten Angriff, die nächste Gemeinheit oder die nächste Bestätigung für unsere Bedrohungshypothese zu finden.
Doch es geht noch weiter. Wir haben gehört, dass unsere menschlichen Fähigkeiten der Selbstreflexion und Kreativität, unser Humor und auch unsere Empathiefähigkeit maßgeblich im Bereich des Neokortex vernetzt sind. Dieser Bereich wird im Angriffsstress zuerst deaktiviert. Wir können heute einen Menschen mit massivem Stress in den Hirnscanner schieben und über bildgebende Verfahren sehen, wie dort beispielsweise im Bereich, in dem die Empathiefähigkeit oder das Sprachzentrum vernetzt sind, aufgrund nachlassender Aktivität weiße Stellen sichtbar werden.
Unser aufs Überleben ausgerichtetes System fokussiert sich im vermeintlichen Angriffsfall auf seine Selbstverteidigungs- bzw. Selbstschutzfähigkeiten. Überflüssiger kognitiver Luxus wird deaktiviert. So bitter es klingt: Das bedeutet, dass unser Gehirn nicht mehr vollständig funktioniert. Wir sind nicht mehr im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte.
Unwillkürliche Reaktion bei Angriff
Im vorigen Abschnitt haben Sie die Neurozeption, den Gefahrenscanner unseres Nervensystems, kennengelernt. Auch beim Gegenüber kommt diese Eskalationsdynamik in Gang: Das Nervensystem des Partners scannt noch unter der Bewusstseinsebene den anderen und erkennt subtilste Angriffe und Stimmungswechsel. Manchmal sind es gar keine Angriffe, aber ein bestimmtes Verhalten trifft ohne böse Absicht auf einen alten wunden Punkt beim Gegenüber. Dieser ist damit ganz schnell getriggert und schlägt zurück oder verbarrikadiert sich – was umgekehrt wiederum den anderen triggern kann.
Überspitzt gesagt büßen jetzt beide Gehirne allmählich oder schlagartig einen Teil ihrer Funktionsfähigkeit ein. Sie sind nicht mehr in der Lage, die Dinge vollständig zu überblicken. Die Betroffenen können in dieser Verfassung keine Verantwortung mehr übernehmen und schaffen es nicht, sich in den anderen einzufühlen, sondern sind nur noch darauf fokussiert, den eigenen Kragen zu retten oder den eigenen Schmerz zu lindern.
An diesem Punkt ist eine Lösungsfindung nicht mehr möglich – Verbundenheit und Beziehung gehen verloren. Für wirklichen Kontakt braucht es zwei Menschen, die sich im Modus des sozialen Kontaktsystems befinden. Manchmal gelingt es einem Paar, den Schlagabtausch noch auf einem einigermaßen akzeptablen Niveau zu halten oder die Interaktion schnell zu stoppen. So lässt sich der Schaden gering halten. Je weiter beide Systeme aber getriggert sind, umso weniger sind kreative Lösungen und Verbundenheit zu erwarten.
Alles Wissenswerte in Kürze
Wenn wir streiten – also ein Defensivsystem unseres autonomen Nervensystems aktiviert ist –, werden wichtige Bereiche des Gehirns top-down, also von vorne oben nach hinten unten, deaktiviert. Unser Gehirn funktioniert dann nicht mehr vollständig. Das, was wir in der entsprechenden Situation eigentlich brauchen, nämlich Verständnis, Überblick oder kreative Lösungen, ist in einem solchen Zustand nicht zu bekommen. Alles, was in diesem Modus funktioniert, ist einseitig – und zwar entweder kampfmotiviert/feindselig oder resignativ/passiv.
Deshalb gibt es keine andere Lösung als: Raus aus dem Streit! Er nützt nichts, sondern zerstört nur. Und keine Sorge: Das bedeutet keineswegs eine Verdrängung! Aber dazu später mehr.
Blick nach innen
Übung: Die verschiedenen Modi meines Nervensystems
In der folgenden Übung können Sie schauen, ob es ein Unterschied ist, in welchem Modus sich Ihr autonomes Nervensystem befindet, während Sie auf ein bestimmtes Konfliktthema schauen. Vergleichen Sie Ihre Gefühle, Gedanken, Körperwahrnehmungen in der akuten Konfliktsituation mit den Wahrnehmungen im jetzigen, entspannten Zustand.
Wählen Sie zunächst eine vergangene Eskalationsszene aus. Reflektieren Sie die Situation anschließend aus jetziger Sicht. Versetzen Sie sich dann zurück in die Streitszene und vergleichen Sie abschließend Ihre Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmungen.
Auswahl des Streitthemas, bei dem die Situation eskaliert ist:
Heutiger Blick auf die Situation:
Meine Gefühle:
•Was empfinde ich heute im Hinblick auf das Thema? Ärger? Angst? Hilflosigkeit? Trauer oder Enttäuschung?
Skalieren Sie das stärkste Ihrer Gefühle auf einer Skala zwischen 0 (kein bisschen) bis 10 (kaum auszuhalten).
Meine Gedanken:
•Was denke ich heute über das Thema?
•Was hat mich da so auf die Palme gebracht?
•Warum hat der andere wohl so oder so reagiert und argumentiert?
•Kann ich sehen, was seine Anliegen dabei waren (Empathie)?
•Welche Lösungsmöglichkeiten sehe ich jetzt und heute?
Meine Körperwahrnehmungen:
•Wenn ich jetzt an das Thema denke: Spüre ich kleine Veränderungen in meinem Körper?
•Beginnt mein Herz, schneller zu schlagen?
•Gibt es eine beginnende Anspannung? Wenn ja, wo? Im Gesicht? In Schultern, Armen, Händen, Beinen?
Skalieren Sie ebenfalls die Anspannung in Ihrem Körper von 0 (bin völlig entspannt) bis 10 (kaum auszuhalten), während Sie jetzt an das Thema denken:
Wahrnehmungen innerhalb der damaligen Situation:
Nehmen Sie sich nun noch mal einen Moment Zeit, die Szene in sich hochkommen zu lassen. Schauen Sie sich den Konflikt an – wie in einem inneren Videofilm. Spüren Sie in sich hinein, lesen Sie in Ihrem Gesicht und Ihrer Haltung. Versuchen Sie, sich an Ihre Worte und Handlungen zu erinnern, und notieren Sie diese:
Meine Gefühle:
•Was habe ich in der Situation empfunden? Welche Gefühle (z. B. Wut, Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit etc.) waren am stärksten (auf einer Skala von 1–10)?
Meine Gedanken:
•Was habe ich in der Situation gedacht? Zu welchen Gedanken war ich fähig?
•Was war meine Sorge?
•Waren die Gedanken weit oder drehten sie sich eher im Kreis?
•Wie gut konnte ich mich in die Position des anderen hineinversetzen (Empathie)?
Meine Körperwahrnehmungen:
Versetzen Sie sich noch mal in die Szene:
•Was