Im politischen Prozess erscheint das alles in einem anderen Licht. Das Räderwerk der Justiz und ihre Prozessmechanismen werden um politischer Ziele willen in Bewegung gesetzt, die über die Neugier des unbeteiligten Betrachters und das Interesse des Ordnungshüters an der Erhaltung der staatlichen Ordnung hinausgreifen. Hier ist dem Geschehen im Gerichtssaal die Aufgabe zugewiesen, auf die Verteilung der politischen Macht einzuwirken. Das Ziel kann zweierlei sein: Entweder bestehende Machtpositionen umzustoßen, indem man aus ihnen Stücke heraus bricht, sie untergräbt oder in Stücke schlägt, oder umgekehrt den Anstrengungen um die Erhaltung dieser Machtpositionen vermehrte Kraft zu verleihen. Ihrerseits können solche Bemühungen um die Wahrung des Status quo vorwiegend symbolisch sein oder sich konkret gegen bestimmte, sei es potentielle, sei es bereits in vollem Ausmaß wirksame Gegner richten. Manchmal kann es zweifelhaft sein, ob ein solches gerichtliches Vorgehen die bestehende Machtstruktur wirklich festigt; es kann passieren, dass es sie schwächt. Dass es aber in beiden Fällen darauf zielt, die jeweilige Machtkonstellation so oder so zu beeinflussen: Das eben macht das Wesen des politischen Prozesses aus.
Einwenden lässt sich gewiss, dass hier »Macht« zu eng gefasst sei und dass das Gerichtsverfahren an einer viel breiteren Front als Instrument der Machtverschiebung eingesetzt werde. Jeder zivilrechtliche Streit, in dem es um die gegenseitigen Beziehungen großer wirtschaftlicher Unternehmungen oder um die Beziehungen zwischen solchen Unternehmungen und der öffentlichen Hand geht, schließt in Wirklichkeit den Versuch ein, eine Veränderung bestimmter Machtpositionen herbeizuführen oder zu verhindern. Viele nichtpolitische Strafverfahren können entschieden politische Wirkungen auslösen, zum Beispiel die politische Karriere des Staatsanwalts beeinflussen oder das Schwergewicht der Macht innerhalb einer Gewerkschaft, einer Regierungskörperschaft oder eines Konzerns verlagern. All das ist unbestritten. Was jedoch dem eigentlichen politischen Prozess seine besondere Färbung und Intensität verleiht und seine besondere Problematik kennzeichnet, sind nicht die langfristigen politischen Folgen sozialökonomischer Machtkämpfe und nicht die indirekten politischen Auswirkungen der Festigung oder Schwächung persönlicher Machtpositionen, sondern die Tatsache, dass der Prozess unmittelbar zu einem Faktor im Kampf um politische Macht wird.
Wo sich die Aura des Verfassungsstaats behauptet, können theoretisch unbegrenzt viele Privatpersonen die Gerichte in Anspruch nehmen, um Machtverhältnisse zu beeinflussen. Was Begrenzungen und Regeln unterliegt, ist die Verfahrensweise, die eingehalten werden muss, damit der Machtkampf die Arena der gerichtlichen Auseinandersetzung betreten könne. Ein Verfahren von Amts wegen können nur staatliche Institutionen in Gang bringen.2 Personen und Organisationen, die nicht an der Macht sind, müssen andere Wege einschlagen, zum Beispiel Beleidigungsklagen einbringen oder andere dazu zwingen, sie zu verklagen. Gegen politische Rivalen innerhalb oder außerhalb des staatlichen Machtgefüges ist diese Waffe meistens leicht zu gebrauchen: Wer an der Macht teilhat oder – das ist oft wichtiger – die Macht anstrebt, kann die Haltungen oder Taten seiner Rivalen und Feinde, sogar solcher außerhalb der Landesgrenzen, mit einer Beleidigungsklage zum Gegenstand gerichtlicher Prüfung machen, das heißt, sie indirekt der Entscheidung des Richters unterwerfen.
In totalitären Herrschaftsordnungen ist eine solche gerichtliche Durchleuchtung des politischen Verhaltens allerdings ausgeschlossen: Sie erlauben keine öffentliche Erörterung der Probleme der Machtverteilung innerhalb der herrschenden Gruppe oder Kaste. Politisch gefärbte Beleidigungsverfahren erreichen den Gerichtssaal im totalitären Bereich nur, wenn sie dem Zweck der Massenbeeinflussung dienen. Überhaupt steht der totalitäre Gerichtssaal nur auf Geheiß der Herrschenden für offene politische Auseinandersetzungen zur Verfügung.
Dort, wo die Tradition noch mächtig genug ist, ein Minimum an prozessualen Garantien zu bewahren, besteht der politische Prozess heute weniger darin, dass unangreifbare Machtpositionen einseitig bestätigt werden, als dass konkurrierende Machtgruppen ihre Kräfte messen. Er braucht gewiss kein Wettstreit von Gleichen zu sein und ist es auch meistens nicht. Aber da er dennoch eine Kraftprobe ist, unterscheidet er sich grundlegend vom politischen Prozess des Mittelalters, zu dem Vasallen, die ihre Domäne zu sehr erweitert hatten, befohlen wurden, damit ihnen ihr Lehen abgenommen oder so beschnitten werden konnte, dass sie keine Gefahr mehr für die Oberhoheit des Lehnsherrn darstellten.3 Da dieser mittelalterliche Prozess dem Zweck diente, den Herrschaftsanspruch des Lehnsherrn zu bestätigen und zu festigen, bedrohte er unmittelbar Sicherheit und Besitz des Angeklagten, der vertrauensselig genug war, der Ladung zu folgen; der Angeklagte war besser daran, wenn er der Verhandlung fernblieb und sich auf das Risiko offener Kriegführung vorbereitete. Im politischen Prozess der Gegenwart ist es wahrscheinlich, dass der Angeklagte vor Gericht erscheint: Nicht nur weil der Staat über die weitaus größeren Zwangsmittel verfügt, die auch ohne große militärische oder polizeiliche Aktionen ausreichen, die Anwesenheit des Angeklagten zu erzwingen, sondern auch, weil ihm das Gerichtsverfahren eine Kampfchance gibt, auf die er nicht zu verzichten wagt.
Es kann gewiss vorkommen, dass der politische Gegner, gegen den die herrschenden Mächte ein Gerichtsverfahren eingeleitet haben, Gelegenheit hat, dem Zuständigkeitsbereich des Gerichts zu entkommen oder gar ins Ausland zu fliehen. Wenn er aber diese Gelegenheit nutzt, läuft er Gefahr, eher der Sache seiner Verfolger als der eigenen oder der seiner Gesinnungsgenossen einen Dienst zu erweisen. Nicht nur totalitäre Organisationen verlangen von ihren Führern und Funktionären, dass sie auf ihrem Posten bleiben und auch bei drohender Gefahr der Strafverfolgung die Bastion halten; nicht nur sie gehen mit Disziplinarstrafen gegen Kampfgefährten vor, die sich eigenmächtig aus dem Staub machen. Zwar braucht Flucht ins Ausland weder die Fortführung des politischen Kampfes auszuschließen noch seine Wirksamkeit entscheidend zu beeinträchtigen; aber sie kann dazu führen, dass der Flüchtende mit ausländischen Gruppen oder Regierungen Vereinbarungen treffen und Kompromisse eingehen muss. Sogar unter günstigen Umständen kann das seine Mitstreiter in Schwierigkeiten bringen, ihre Bewegungsfreiheit einschränken oder unerwünschte politische oder ideologische Verpflichtungen nach sich ziehen. Man denke nur an die peinliche Lage, in die sich General de Gaulle und seine »Freie Französische« Regierung in den Kriegsjahren in England begeben hatten!
Verfolgten totalitären Parteien fällt es leichter, ihr Personal nach Belieben von einem Ort zum andern zu dirigieren. Ihre Apparate halten das aktive Personal unter strikter Kontrolle, sind daran gewöhnt, die Parteiposten auch unter normalen Verhältnissen ständig umzubesetzen, und haben eher die Möglichkeit, eine größere Anzahl von Menschen in verschiedenen Ländern in Parteistellungen zu bringen, ohne damit auch Verpflichtungen in Bezug auf den künftigen Parteikurs zu übernehmen. Aber auch sie können nicht verhindern, dass der einzelne Funktionär durch die Flucht ins Ausland Ansehen einbüßt; so ist es zum Beispiel dem französischen Kommunistenführer Maurice Thorez während seines Aufenthalts in der Sowjetunion ergangen.4
Noch viel triftigere Gründe, das Erscheinen vor Gericht einem langen Exil vorzuziehen, haben Angeklagte, die mit totalitären Bestrebungen nichts zu tun haben. Das gilt nicht minder auch für Beleidigungs- und Meineidsprozesse. Zwar kann der Angeklagte oder Angeschuldigte der abträglichen Publizität des Gerichtsverfahrens manchmal dadurch entgehen, dass er seine Ämter niederlegt oder sich auf Erklärungen einlässt, die ein Strafverfahren abzuwenden vermögen; aber in der Regel wird er es vorziehen, den Fall vor Gericht auszufechten, weil damit die Hoffnung verbunden bleibt, dass es ihm gelingen werde, die Anschuldigungen zu widerlegen oder als furchtloses Opfer gegnerischer Schikanen seinen politischen Ruf zu retten oder sogar neues Ansehen zu gewinnen.
Allgemein sind politische Prozesse der neuesten Zeit durch die dramatische Konstellation eines Kampfes gekennzeichnet, dessen Charakter die politische Bedeutung und die öffentliche Wirkung des Verfahrens anzeigt. Trotz dieser Gemeinsamkeit weisen sie in Bezug auf Prozessgegenstand, Rechtsprobleme und Verfahrensmodalitäten mancherlei Varianten auf. Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte lassen sich einige klar umrissene Kategorien von Prozessen herausschälen.
Politische Fragen