Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
Скачать книгу

       1. Kriminalprozess und politischer Prozess

      Sowohl die Staatsgewalt als auch einzelne Gruppierungen von Staatsbürgern haben sich in der Neuzeit immer wieder, welches Rechtssystem auch gelten mochte, darum bemüht, die Unterstützung der Gerichte zu mobilisieren, um das politische Machtgleichgewicht zu konsolidieren oder zu verschieben. Verkleidet oder unverkleidet werden politische Fragen in den Gerichtssaal gebracht; sie müssen aufgenommen und auf der Waage des Rechts gewogen werden, mögen die Richter auch noch so sehnlich wünschen, solchen Komplexen aus dem Wege zu gehen. Politische Prozesse sind unausweichlich.

      Das hört sich wie eine Binsenwahrheit an. Dennoch möchte so mancher Jurist schlankweg bestreiten, dass es so etwas wie einen politischen Prozess geben könne. Zu behaupten, dass das Ding existiere und oft weittragende Auswirkungen habe, heißt für diese Jünger des unbefleckten Rechts, die Integrität der Gerichte und das Ethos des Juristenberufes in Frage zu stellen. Allen Ernstes meinen diese Schildknappen der Unschuld, dass, wo Achtung vor dem Gesetz bestehe, Strafverfolgung nur dem drohe, der etwas getan habe, was nach den geltenden Gesetzen strafbar sei; wer beschuldigt werde, sich gegen das Gesetz vergangen zu haben, werde nach feststehenden Regeln abgeurteilt, die genau vorschrieben, wie in den vorgebrachten Anschuldigungen Wahres von Unwahrem zu trennen sei; dass sich politische Motive oder Hinterabsichten dazwischenschalten könnten, werde durch allgemein anerkannte altehrwürdige prozessuale Normen verhindert, nach denen sich die Rechtspflege unter zivilisierten oder, wie man heute zu sagen pflegt, freien Völkern richte. (Wie zweideutig solche Grundbegriffe der heutigen politischen Systeme sind, weiß jeder, der sich für Meinungsbildungsvorgänge und politische Semantik interessiert: Ursprünglich auf die demokratische Struktur politischer Gebilde gemünzt, will der Ausdruck »freie Völker« heute nur noch sagen, dass man dem Sowjetblock nicht untertan sei; er bezeichnet nicht mehr Freiheit von jeder Despotie im Innern noch Freiheit von fremden Ketten jeder Art. Jenseits der Grenzscheide weist der tautologische Begriff »Volksdemokratie« zu einem wirksamen Schutz der Volksrechte oder der demokratischen Freiheiten nur eine negative Beziehung auf.)

      In den Augen des naiven Juristen besteht kein grundlegender Unterschied zwischen einem Mordprozess um den unaufgeklärten Tod einer Arztfrau in Cleveland und der Aburteilung des Mordes an einem prominenten Politiker in Kentucky, der auf dem Höhepunkt wütender Wahlkämpfe erschossen worden ist; zwischen einem Meineidsverfahren um Zeugenaussagen bei einer Alimentenklage und einem solchen, bei dem Aussagen vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu regimefeindlichen Organisationen unter die Lupe genommen werden; zwischen einer Klage wegen übler Nachrede, die abschätzige Äußerungen über die Kreditwürdigkeit eines Konkurrenten zum Gegenstand hat, und der Verleumdungsklage gegen einen Minister, der in einer Wahlrede behauptet hat, ein führender Mann der Opposition habe Geld von einer ausländischen Regierung bezogen; oder schließlich zwischen zwei Verfahren über den Missbrauch der Polizeigewalt bei der Aushebung einer geheimen Zusammenkunft, wobei es in dem einen Fall um eine Einbrecher- oder Erpresserbande und im andern um eine zu illegalem Dasein verurteilte politische Partei geht.

      Trotz aller Verschiedenheit der politischen Hintergründe im einzelnen Fall stellt sich das Gerichtsverfahren den Anhängern dieser naiven Vorstellungen einheitlich und unverrückbar dar: Erst trägt die Anklagebehörde Belastungsmaterial zusammen, das zur Verurteilung ausreichen müsste, und nimmt die Hürde, die für sie der Untersuchungsrichter, die Grand Jury oder die Chambre des mises en accusation bedeutet, und dann prüft das zur Urteilsfällung berufene Gericht Tatsachen, Aussagen und Beweise und wendet das Gesetz an. Etwaigen Unterschieden im Verhandlungsgegenstand, in der Statur der beteiligten Personen oder Gruppen, im Grad des öffentlichen Interesses und in den zu erwartenden, vielleicht weitreichenden und vielfältigen Auswirkungen des Urteilsspruchs kommt nach dieser Auffassung keine wesentliche Bedeutung zu. Solche individuellen Züge, die in jedem Verfahren anders sind, müssten sich demnach auf Unwesentliches reduzieren lassen; dazu seien die technischen Möglichkeiten der Verteidigung und die durch Sonderprivilegien geschützte Stellung des Gerichts da. Zwar könnten die einen Prozesse in den Annalen der politischen Geschichte und die anderen in der chronique scandaleuse oder in den Epen des Versicherungsbetrugs figurieren, aber die Verschiedenheit der Materie berühre nicht Sinn und Zweck des Gerichtsverfahrens: die Tatsachen zu ermitteln und das geltende Gesetz auf sie anzuwenden. Von diesem Standpunkt aus gibt es keine Rechtfertigung für den Begriff »politischer Prozess«; er erscheint als billige Floskel einer sensationslüsternen Presse oder als dumme Ausrede eines Verlierers, der die Schuld nicht bei sich, sondern bei anderen sucht.

      Worum ging es denn, was stand auf dem Spiel, als der Mörder der Arztfrau aus Cleveland ermittelt werden sollte? Ein Mord war begangen worden, der wegen der gesellschaftlichen Position des Opfers und des einzigen greifbaren Mordverdächtigen besonders große Aufmerksamkeit auf sich zog. Man kann die große Spannung und Erregung abziehen; dann bleibt immer noch, dass Polizei und Anklagebehörde (sofern sie unkorrumpiert und tüchtig waren) nur ein Ziel im Auge haben konnten: Den Täter ausfindig zu machen. Sie mussten darauf ausgehen, erstens genug Tatsachen für die Eröffnung des Verfahrens aneinanderzureihen und zweitens dem Gericht so viel Belastungsmaterial vorzulegen, dass mit einem Schuldspruch gerechnet werden konnte. Vom Standpunkt der lokalen Bevölkerung und des Publikums überhaupt hatten Polizei und Anklagebehörde gute Arbeit geleistet: Der mutmaßliche Mörder wurde relativ schnell gefasst und vor Gericht gestellt; Ankläger und Verteidiger konnten im Gerichtssaal brillieren; der Angeklagte wurde für schuldig befunden und verurteilt. Den Geboten der Ruhe und Ordnung war Genüge getan worden. Den Menschen war das normale Gefühl der Sicherheit, das von einer ungewöhnlichen Mordtat leicht erschüttert wird und beim Entkommen eines unbekannten Mörders ganz und gar ins Wanken gerät, wiedergegeben worden, und sie hatten noch nicht einmal allzu lange darauf warten müssen.

      Lässt man den Nervenkitzel einer grusligen Mordgeschichte und seine Ausbeutung durch die Massenkommunikationsmedien, die zu jeder großen Gerichtsaffäre in unserer Gesellschaft die Begleitmusik liefern, beiseite, so ist das, worauf es ankommt, eben die Bejahung und Bekräftigung des gesellschaftlichen Ordnungssystems vermittels der öffentlichen Gerichtsverhandlung. Vom Standort des öffentlichen Anklägers, der den Staat vertritt, ist es nicht von zentraler Bedeutung, ob der Abgeurteilte und Verurteilte der mutmaßliche Täter X ist, oder ob ein hypothetischer anderer, ein Y oder ein Z, an seiner Stelle vor Gericht gestanden hat. Die unmittelbare Wirkung des Prozesses gegen X und seiner Verurteilung verschmilzt mit der weniger greifbaren, aber länger anhaltenden Wirkung der Wiederherstellung des Vertrauens zur öffentlichen Ordnung. Mehr können die Hüter der Ordnung von einem Kriminalprozess nicht erwarten, und mehr erwarten sie gewöhnlich nicht von ihm.

      Umgekehrt ist der Freispruch das einzige, worauf es dem Angeklagten ankommt. Für ihn stellt sich der Einsatz sehr hoch: Es geht um sein Leben, seine Freiheit, das Schicksal seiner Familie. Nur ihn betrifft der Sieg oder die Niederlage. Auch wenn dieser oder jener besondere Aspekt seiner Beweggründe oder seiner Lebensumstände, wie er im Prozess zutage tritt, für den Sozialhistoriker oder den Psychologen viel mehr bedeuten und ihnen dazu verhelfen mag, die Problematik einer ganzen Generation oder einer Gesellschaftsklasse in den Brennpunkt zu bekommen, findet der Prozess gleichwohl in der privaten und persönlichen Ebene des Angeklagten statt. Das Verfahren vor Gericht ist das letzte Glied einer langen Kette von Vorkommnissen, die hier nur insofern von Bedeutung sind, als sie in der persönlichen Geschichte des Angeklagten eine Rolle spielen. Für das politische Gebilde als Ganzes sind diese für die Beteiligten schicksalhaften Vorkommnisse nicht mehr als Einzelmeldungen aus dem Polizeibericht. Sie können auch als solche überaus interessant sein; bisweilen erschließen oder entlarven