Dass gesetzliches Rüstzeug für die Richter auf Hochtouren produziert wird, besagt nicht notwendigerweise, dass dies Rüstzeug unbedingt Verwendung finden muss. Die Eilarbeit der Gesetzgebungsfabrik ergibt sich aus den Ängsten des Augenblicks; ihre Produkte wirken wie Beruhigungspillen. Anders ausgedrückt: Man entwirft eine Konstruktions skizze, die genaueren Daten wird man je nach Bedarf später einsetzen – oder das Ganze in den Papierkorb werfen. Eine Bestandsaufnahme dieser Gesetzgebung entspricht einer Lagerinventur: Was verkauft werden kann, wird sich später herausstellen. Der Sicherheitsschutz des Staates ist überaus dehnbar. Auf keinem anderen Gebiet gibt es eine größere Kluft zwischen dem, was möglich ist, und dem, was wirklich geschieht; auf keinem anderen Gebiet hängt die Handhabung der Praxis in noch höherem Maße ab von den Erfordernissen der Stunde, den Stimmungen der Bürokratie und der Vorausschätzung von Gewinnen und Verlusten, die sich in der Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung und in den Reaktionen der von Sanktionen bedrohten Gruppen niederschlagen.
Das seines demokratischen Ausgleichs sichere England darf glauben, dass es sich leisten kann, mit gesetzgeberischen Regelungen und ihrer Vollstreckung sparsam umzugehen; es kann Sicherheitsmaßnahmen auf den Spionagekomplex beschränken und weitergehende Eingriffe ins politische Leben ausschließen. Sogar angesichts der Gefahr einer Lawine von race riots, Krawallen und pogromartigen Ausschreitungen gegen Menschen von dunklerer Hautfarbe, zeigt die englische Öffentlichkeit beträchtliche Hemmungen, auf den Hebel einer restriktiven Gesetzgebung zu drücken.
In Frankreich weiß sich der bürokratische Apparat dank umfassender Delegation von Befugnissen vor störender parlamentarischer Einmischung geschützt. Neuerdings konnte er es sich sogar gestatten, vorsichtige Bedenken des Conseil d’État gegen seine Versuche willkürlicher Bevormundung unerwünschten politischen Verhaltens in den Wind zu schlagen.58 Neben der jüngsten Neufassung der Sicherheitsgesetzgebung hat er immer größere Berge von mitunter äußerst vagen inhaltlichen Sicherheitsbestimmungen und Verfahrensvorschriften aufgetürmt. Ihre Anwendung erfolgte gewöhnlich in sprunghaften Ausbrüchen; sie ist systematischer geworden, seit sich das Regime bemüht, nicht nur seine Gegner in Nordafrika, sondern auch deren Anhang im französischen Inland zu treffen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat schon 1951 ein umfassendes Netz gesetzlicher Sicherheitsbestimmungen geschaffen, das sie seitdem ständig vergrößert, um jeden Hasser und jeden Hetzer (etwa Hitlerscher Schattierungen), der sich aus der Zone der gemäßigten Kritik hinauswagen sollte, einzufangen. Bis jetzt ist diese Gesetzgebung überwiegend dazu benutzt worden, die blassen Spuren der politischen Betätigung von Kommunisten systematisch, ohne Aufregung, mit geschäftsmäßiger Routine auszumerzen.
In den Vereinigten Staaten besteht heute, seit die Gewinnung und Nutzung der Atomenergie Tatsache geworden ist, ein neues Gefüge gesetzlicher Bestimmungen, die auf die älteren Spionagebekämpfungsvorschriften aufgepfropft worden sind. Obgleich Verrat besonders schwer bestraft wird, weil der Vertrauensbruch gegenüber der Nation als höchst verwerflich gilt, fehlt in den neuen Bestimmungen die verfassungsmäßige Sicherung, wonach die Verurteilung wegen einer Verratshandlung die Bekundung zweier Augenzeugen voraussetzt. Indes sind die Verratsund Spionagebestimmungen nur selten angewandt worden, vor allem nachdem das Paket der aus Kriegshandlungen resultierenden Fälle, darunter auch der Fälle feindlicher Propagandaagenten amerikanischer Abkunft, seine Erledigung gefunden hatte. Zum Spionage- und Verratskomplex gesellte sich das verfassungsmäßig zwielichtige Gebiet der Aufruhrgesetzgebung der letzten Jahrzehnte; hier gibt es die Verfolgung von Kommunisten wegen Verstoßes gegen das Smith-Gesetz, die fragwürdigen sporadischen Versuche mancher Politiker der einzelnen Gliedstaaten, die fast vergessene Gesetzgebung wieder zur Anwendung zu bringen, und die Inquisitionsmaschine zur Strafverfolgung unergiebiger Zeugen, die aus politischen Gründen die verlangten Auskünfte schuldig bleiben.59 Ob es zur Strafverfolgung und zur Verurteilung kommt, hängt von den Wechselfällen der politischen Konjunktur im Inland und vom Auf und Ab des Ringens in den oberen Bundesgerichten ab.60
Welche Probleme die Anwendung der Sicherheitsgesetzgebung für Stil und Atmosphäre des politischen Lebens mit sich bringt und wie sie das Gesamtklima der politischen Auseinandersetzungen in verschiedenen Ländern beeinflusst, wird in der weiteren Darstellung zu beleuchten sein.
1 P. Cornelius Tacitus: Annalen, I, 72 und 73; III, 22; XVI, 30 f.; vergleiche Theodor Mommsen: Römisches Strafrecht, Graz, 1955 (unveränderter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1899), S. 584 f.
2 Das Urteil wurde zwar vom Appellationsgericht aufgehoben, aber nicht etwa weil die höhere Instanz die weltliche Gerichtsbarkeit für unzuständig angesehen hätte. Sie behalf sich mit der unanstößigsten und unüberprüfbarsten aller Rechtskategorien: Dem streitbaren Kleriker wurde das Fehlen eines schuldhaften Vorsatzes zugutegehalten; siehe Fall Fiordelli, Appellationsgericht von Florenz, Urteil vom 1. März 1958, in: Il Foro Italiano, Jahrgang LXXXIII, Teil II, Sp. 741.
3 Vergleiche das unveröffentlichte Urteil des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 27. November 1959, 9 StE 4/59 (Verurteilung nach § 100e Abs. 1 des Strafgesetzbuchs wegen »Beziehungen« zu »einer Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Strafgesetzbuches«, die »die Mitteilung von Staatsgeheimnissen … zum Gegenstand hatten«). Die Angeklagte war als Sekretärin beim Landesverband Oder-Neiße der CDU beschäftigt und hatte dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR Informationen aus dem Parteibereich über Personen, Tagungen, Beschlüsse, Wahlvorbereitungen, Reisen und dergleichen mehr übermittelt. Solche Dinge, sagte das Gericht, stellten »für sich allein keine Staatsgeheimnisse« dar; die Angeklagte habe aber »in einer zentralen Stelle der Regierungspartei« gearbeitet, sei dadurch mit Personen zusammengekommen, »denen Staatsgeheimnisse bekannt sind«, und das Ministerium für Staatssicherheit habe damit rechnen können, »daß die Angeklagte im Laufe der Zeit in nachrichtendienstlich noch ergiebigere Stellungen aufrücken würde«. Mit der Verurteilung der Angeklagten wegen potentieller, nicht tatsächlicher Preisgabe von Staatsgeheimnissen benutzt der Bundesgerichtshof die Wand, hinter der das Gesetz Staatsgeheimnisse verwahren wollte, dazu, auch parteiinterne Vorgänge, die in einer Demokratie im weitesten Umfang publik sein sollten, mit einem Geheimnisschutz zu versehen, dessen Missachtung Gefängnis nach sich zieht.
4 Im Jahre 1876 eingefügter § 353a des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich (»Arnim-Paragraph«). Karl Binding: Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, Zweiter Band, Zweite Abteilung, Leipzig, 1905, S. 495, nennt dies Bismarcksche Erzeugnis »ein häßliches und totgeborenes Gelegenheitsgesetz«.
5 The Statutes of the Realm. From Original Records and Authentic Manuscripts, printed by command of H. M. King George the Third in pursuance of an address of the House of Commons, Volume III, London, 1816, S. 859.
6 Christoph Heinrich Brecht: Perduellio. Eine Studie zu ihrer begrifflichen Abgrenzung im römischen Strafrecht bis zum Ausgang der Republik, München, 1938, S. 191 ff.
7 Corpus iuris civilis, Iustiniani digesta. XLVIII, IV, 11.