»Das geht aber nur, wenn die jungen Kollegen uns um Rat fragen und nicht eigenmächtig handeln!«, knurrte Ludwig.
Egidius sah überrascht zu ihm herüber.
»Ludwig? Was erregt deinen Unmut?«
»Es handelt sich um die Reanimation, die ich gestern durchgeführt habe«, kam Amandus Pachmayr seinem Kritiker zuvor. »Der Patient wollte seinem Leben mit Tabletten ein Ende setzen. Ich wusste nicht, dass er unter einem fortgeschrittenen Stadium eines Pankreaskarzinoms leidet. Hätte ich es gewusst, hätte ich die Entscheidung zur Reanimation vermutlich nicht getroffen.«
»Das ist wirklich ein schwieriger Fall, Herr Pachmayr«, stellte Egidius ruhig fest. »Sie sahen sich zum raschen Handeln gezwungen, und mit etwas mehr Erfahrung hätten Sie bemerken können, dass bei der ausgeprägten Kachexie des Patienten hier vermutlich eine maligne Erkrankung vorliegt. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen. Auch du nicht, Ludwig. Selbstverständlich sind wir immer und unter allen Umständen verpflichtet, Leben zu erhalten. In diesem Fall allerdings führt unser Eingreifen dazu, dass der Patient zweimal stirbt. Ich bin der Überzeugung, dass es reicht, einmal diese Welt zu verlassen.«
Auf dem Weg aus der Aula beeilte sich Amandus, Ludwig, der dicht an der Tür saß, einzuholen.
»Hab ich dir irgendwas getan?«, fragte er. »Warum schwärzt du mich beim Chef noch an? Ich weiß doch, dass ich einen Fehler gemacht habe!«
»Einen unnötigen Fehler«, knurrte Ludwig grimmig. »Aber du musstest dich ja unbedingt als Lebensretter hervortun. Ich hasse es, wenn man den Beruf ausübt, nicht um den Patienten zu helfen, sondern um sein mickriges Ego aufzupolieren!«
»Mickriges Ego? Du kennst das Sprichwort vom Glashaus und dem Steinewerfer, oder? Wie sieht es denn aus, Herr Lechner? Da kommt ein kleiner Berufsanfänger wie ich, ohne Erfahrung, am Beginn seiner Laufbahn. Und führt mal eben eine Reanimation durch, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Und wieviel erfolgreiche Reanimationen gehen auf Ihr Konto, Herr Kollege?«
Er traf da einen wunden Punkt. In der Tat hatte Ludwig bisher noch keine Wiederbelebungsmaßnahme selbstständig durchgeführt.
»Das dachte ich mir!«, stellte Amandus Pachmayr fest. »Das dachte ich mir! Der pure Neid!«
Noch bevor Ludwig etwas einwerfen konnte, zischte Amandus ärgerlich: »Sehen Sie? Deswegen duze ich mich so ungern mit Menschen, die ich nicht weiter kenne. Und in unserem speziellen Fall schlage ich vor, dass wir zum ›Sie‹ zurückkehren, Herr Lechner!, Oh, und passen Sie gut auf, dass Ihnen kein Versehen unterläuft! Die Frühbesprechung findet jeden Tag statt!«
»Wenn Sie Krieg wollen, Herr Pachmayr, bekommen Sie Krieg! Ich komme aus kleinen Verhältnissen und habe mir alles im Leben erkämpfen müssen! Glauben Sie nicht, dass ich mich von Ihnen einschüchtern lasse!«
Die Herren hatten die Notfall-Ambulanz erreicht und begaben sich in ihre Räume.
»Ihnen auch einen recht schönen guten Morgen, meine lieben Doktoren!«, rief Schwester Nasifa über den Flur. »Guten Morgen, Schwester Nasifa«, fuhr sie in normaler Lautstärke fort. »Schön, dass Sie heute unsere Arbeit unterstützen. Übrigens: Ihre neue Frisur steht Ihnen ganz fabelhaft!«
*
Hatice war ärgerlich. So ein schöner Tag, wirklich! Ein wunderschöner, warmer Spätsommertag. Nur vereinzelt sah man Herbsttöne aus dem satten Dunkelgrün des Sommers hervorblicken. Die Obstbäume, Apfel, Birne und vor allem die Zwetschge, überboten sich gegenseitig mit ihren Früchten. Über allem dehnte sich ein hellblauer Himmel aus, dem einige harmlose Wölkchen Charakter verliehen. Alles in Allem: Kein Tag, um auf dem Friedhof zu liegen! Ein ausgedehnter Waldspaziergang, bei dem man Schwammerl suchen konnte. In einem Straßencafé sitzen und Leute beobachten. Auf einer Wiese sitzen, sich bei den Händen halten, und sich liebevoll in die Augen schauen. Dazu war dieser Tag gemacht.
»Und was tue ich? Ich sammle verblühte Blumen von deinem Grab, gieße Rhododendron und Buchsbaum und harke die Erde, die dich bedeckt. Soll ich dir was sagen? Ich habe überhaupt keine Lust zu dem Blödsinn. Ich weiß genau: Du hättest dich lustig gemacht und gesagt, alles muss seine Ordnung haben. Und dann hättest du mich ausgelacht und gefragt, ob diese Verbissenheit ein Resultat meines Pädagogikstudiums ist! Und ich hätte dich ›Dumme Gans!‹ geschimpft, und mindestens 30 – ach, was sage ich – 60 Sekunden kein Wort mehr mit dir gesprochen!
Und du? Du lässt mich hier allein zurück, mit einer Handvoll der schönsten Andenken und einem Herz, das mit jedem Schlag deinen Namen flüstert. Ich bin dankbar für diese Erinnerungen, weil sie so kostbar sind, und ich habe Angst vor ihnen, weil sie mir wehtun.«
Sie betrachtete ihr gärtnerisches Werk und nickte zufrieden. Dann verstaute sie die kleine Harke und die häßliche grüne Plastikgießkanne hinter dem Grabstein der Nachbarin, von der sie sich diese Utensilien ausgeliehen hatte.
»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde«, ertönte eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr zusammen.
»Birte! Hast du mich erschreckt! Es hätte nicht viel gefehlt, und du hättest mich direkt neben ihr vergraben können!«
»Das wäre aber schade gewesen«, raunte Birte. »Sehr, sehr schade.«
Ungeschickt versuchte sie, Hatices Hand zu ergreifen. Diese zog sie zurück und wandte sich ab.
»Birte, bitte hab Verständnis, aber – das ist für mich eindeutig zu früh. Ich habe die letzten Monate noch nicht verarbeitet. Es ist einfach zu viel passiert.«
Die Krankenschwester nickte verständnisvoll.
»Ich kann das nachempfinden, Hatice. Aber bitte denk daran, dass das Leben weitergeht. Und es soll weitergehen mit Frohsinn und Lachen und erotischer Begier. Du lebst ja noch, und du musste dein Leben genießen! Und du wirst Hilfe brauchen, um das Kind aufzuziehen! Ich dachte da an jemand Professionellen. Zum Beispiel eine staatlich geprüfte Kinderkrankenschwester!«
Hatice lächelte sie an. Sie machte eine Geste unbestimmter Bedeutung. Laut sagte sie: »Du hast vermutlich recht!«
Ja, vielleicht hatte Birte wirklich recht. Sie konnte ja nicht wissen, was in ihr vorging. Wie immens der Verlust war, den sie erlitten hatte. Veronika war ihre erste Frau gewesen. Nicht, dass ihr nicht schon die eine oder andere Freundin oder Kollegin gut gefallen hätte. Aber sie hatte sich nie eingestehen können, dass sie das eigene Geschlecht bevorzugte. Keine war es wert, die Konfrontation mit den Überzeugungen ihrer Mutter, der Tradition, der Religion und, ganz besonders, sich selbst, auf sich zu nehmen.
Dann war sie Veronika begegnet. Und schlagartig änderte sich alles. Veronika war so vielschichtig. Gebildet und albern. Sarkastisch und mitfühlend. Ihre Kurven waren faszinierend. Wie sie Vronis Körper liebte! Weich, warm, mütterlich und von einem sinnlichen Zauber, der ganz im Gegensatz stand zu dem aktuellen knochigen Schönheitsideal.
Sie fand nun endlich zu sich selbst. Sie ging nicht hausieren mit ihrem Coming out, aber sie bewegte sich höchst selbstsicher, mit der größtmöglichen Selbstverständlichkeit, durch ihr Leben. Wer sie darauf ansprach, dem begegnete sie nicht mit den üblichen Phrasen, dass sie den Richtigen noch nicht gefunden hätte, das überließ sie ihrer Mutter. In der Schule hatte eine neidische Kollegin gerüchteweise verbreitet, dass sie sie in eine stadtbekannt einschlägige Kneipe hatte gehen sehen. Das wäre zutreffend, hatte sie freundlich erwidert. Und gefragt, ob die Kollegin noch weitere Informationen über ihr Privatleben wünschte.
Einzig die Entscheidung, Veronika ihrer Mutter vorzustellen, hatte sie aufgeschoben. Wie überrascht sie war, dass Ayse so entspannt mit allem umging! Und wie unkompliziert sie Vroni begegnete!
Frohsinn, Lachen, erotische Begier, hatte Birte prophezeit. Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein. Das war weit entfernt. Sie haderte nicht mit dem Schicksal. Sie war dankbar für die Zeit mit Veronika. Aber der Gedanke, dass ein anderer Mensch nahtlos deren Platz einnehmen könnte, erschien ihr verwegen.
»Lass mir bitte Zeit, Birte.