Dr. Sonntag Box 4 – Arztroman. Peik Volmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peik Volmer
Издательство: Bookwire
Серия: Dr. Sonntag
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740972318
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      *

      »Schön, dass du wieder bei mir bist«, stellte Timon fest. »Du bist mir schon sehr abgegangen!«

      »Du hast mir auch gefehlt«, erwiderte Emmerich. »Scheiße, du hast mir so was von gefehlt! Aber ich konnte nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen. Ich musste erst einiges lernen, weißt du? Dieser Bruder Basilius – unglaublich! Er sieht einen an und … irgendwie kennt er einen! Er durchschaut dich, aber auf eine liebevolle Weise! Du fühlst dich keinen Moment nackt und ausgeliefert! Man empfindet nur Vertrauen und hat das Gefühl, gut aufgehoben und beschützt zu sein.«

      »Was hast du gelernt?«

      »Dass ich etwas wert bin. Dass ich liebenswert bin. Dass ich wichtig bin. Dass ich keine Leistung erbringen muss, damit man mich liebt.«

      »Das hätte ich dir auch sagen können!«

      »Ich hätte es dir nicht geglaubt, Timon. Schau mal, du bist so ein toller, selbstsicherer Mensch! Du betrittst einen Raum, und jeder merkt, dass du da bist. Du strahlst. Du schillerst in allen Farben. Du bist charmant, gebildet, du bist promovierter Akademiker. Ich hab mich dir immer unterlegen gefühlt. Ich habe nie gewusst, dass man so etwas Dummes, Hässliches, Tollpatschiges wie mich überhaupt lieben kann!«

      »Moment, Moment! Einspruch, Euer Ehren! Du bist weder dumm noch hässlich, und schon gar kein Tollpatsch. Du bist laut Egidius der beste Physiotherapeut, den er in seinem Leben kennengelernt hat. Du bist attraktiv, und du bist ein feiner, geschickter Mensch.«

      Timon stand jetzt dicht vor ihm.

      »Und vor allem, Emmerich Fahl, bist du der Mann, dem ich alles verdanke, was ich heute bin. Was wäre aus mir geworden, hätte es dich nicht gegeben?«

      »Timon, schau mal«, erwiderte Emmerich, »du kommst aus einer Ehe mit einer Frau. Du hast Kinder.«

      »Die ich nur stundenweise und nur unter Aufsicht sehen darf. Und vergiß bitte Schmidt nicht!«

      »Schmidt?«

      »Schmidt, den Bobtail!«

      »Ach ja, richtig! Nein … Ich dachte immer, dass ich dir das alles, was du hattest, nicht geben kann und dass du deswegen irgendwann unzufrieden sein würdest mit unserem Leben.«

      »Mach dir da keine Sorgen, Emmerich. Meine Kinder und mein Hund, die bleiben mir ja. Und es stimmt: Ich hätte alles darum gegeben, meine Ehe aufrecht erhalten zu können. Ich hatte auch ein wenig Angst, weil ich mir so eine Beziehung mit einem Mann irgendwie nicht vorstellen konnte, auch wenn ich Männer immer schon attraktiv fand. Aber ich wollte mir das nicht eingestehen, weißt du?«

      »Der Leute wegen?«

      »Ja, sicher auch. Siehst du? Da hast du deinen selbstbewussten promovierten Akademiker! Traut sich nicht, mit einem Mann zusammenzuleben, weil die Frau Nachbarin die Stirn runzeln könnte! Ich lach mich halbtot!«

      Timon kicherte albern.

      »Seit meinem Schlaganfall sehe ich vieles anders, Emmerich. Ich habe höchstselbst erlebt, wie schnell so ein Leben zu Ende gehen kann. Ich will nicht eine Rolle spielen. Ich will mein Leben leben. Und zwar mit dir. Und ich verspreche dir, dass ich dir sage, wenn ich mal ohne dich ausgehe, mit wem. Und dass du keine Sorge haben musst. Und wann ich zurückkomme.«

      Emmerich starrte Timon unentwegt an.

      »Was guckst’n so? Hab ich einen Punkt auf der Nase?«

      »Ich dachte nur gerade, was ich für ein Glück habe. Und dass ich es verdient habe. Und ich dachte, was du für ein Glück mit mir hast. Gut, oder?«

      »Respekt! Behaupte keiner, dass du keine Fortschritte machst! – Sag mal, dürfen deine Mönche das Kloster verlassen?«

      »In besonderen Ausnahmefällen – sicher!«

      »Ich würde gern die Jungs einladen, die sich so um dich gekümmert haben. Ganz besonders diesen Bruder Basilius.«

      Emmerichs Augen leuchteten.

      »Weißt du, was ich mir wünschte?«

      »Na?«

      Emmerich verließ der Mut.

      »Nein, vergiss es.«

      »Jetzt mach’s nicht so spannend! Sag schon!«

      »Ich hatte nur gedacht … Das vielleicht einer der Brüder unsere Beziehung segnen würde! Findest du das blöd?«

      Timon grinste.

      »Du bist ein hoffnungsloser Romantiker, Emmerich Fahl! Was haben sie dir da bloß ins Essen getan? So religiös habe ich dich ja noch gar nicht erlebt!«

      »Mach dich nicht lustig, okay?«

      »Mach ich doch gar nicht. Ich finde den Gedanken übrigens ganz schön. Aber immer, wenn ich gerührt bin, muss ich das ins Witzige ziehen. Humor als Abwehrmechanismus, weißt du?«

      »Ich bin sicher, dass Bruder Basilius auch dir helfen würde!«

      »Ist ja nicht so weit, bis nach Neubeuern! Vielleicht sollte ich es mal versuchen!«

      Eine Dame verschwindet

      Hannes hatte sich auf einen Mauervorsprung gesetzt und wartete. Felicitas musste gleich fertig sein mit ihrem Fotografie-Kurs. Er zählte sicherheitshalber noch einmal sein Geld. Ja, für zweimal Eis reichte es gut. Nicht zum Hinsetzen, aber um jeweils einen Pappbecher mit zwei Eiskugeln mitzunehmen, allemal.

      Nicht, dass er sich sicher war. Felicitas war nett zu ihm. Und stellte keine Forderungen, wie an der Hand halten oder küssen. Es schauderte ihn bei dem Gedanken. Was sollte das überhaupt? Er hatte seine Väter gesehen, wenn sie sich küssten, zur Begrüßung, oder zum Abschied. Manchmal im Fernsehen. Oder wildfremde Leute, mitten auf der Straße! Und wenn jetzt der eine krank war? Schnupfen, zum Beispiel? Dann steckte er doch den anderen an! Eklig! Nein, dieses Rumgeschlabbere fand er scheußlich. Und irgendwie auch voll peinlich. Seine Mutter hatte ihn manchmal geküsst, wenn sie ihn zum Hort brachte oder zur Schule. Dann hatte er sich immer verlegen umgeschaut, um sich zu vergewissern, dass niemand die beschämende Aktion beobachtet hatte.

      Die Jungs in seiner Klasse hatten alle eine Freundin. Zumindest taten sie so und redeten gern, viel und laut darüber und schrieben in den sozialen Netzen Botschaften mit Unmengen von Herzchen und Smileys.

      Also hatte er beschlossen, auch für sich ein Mädchen zu suchen. Er war fast zwölf, immerhin. Die anderen nahmen ihn ohnehin nicht für voll. Er war der mit der Macke. Der immer so komisch war. Und der zwei Väter hatte, statt, wie alle anderen, Vater und Mutter. Der Klassenlehrer hatte darauf hingewiesen, dass nach der heutigen Auffassung nicht das Geschlecht der Eheleute, sondern die Liebe und die Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu übernehmen, wichtig waren. Die Mitschüler fanden das komisch, aber prinzipiell in Ordnung. Versuche, sich über ihn lustig zu machen, prallten wirkungslos an dem Jungen ab. Er verstand gar nicht, was man vom ihm wollte, wenn man sich über Chris’ und Philipps Beziehung mokierte. Sehr ernsthaft und ohne jede Aggression erkundigte er sich bei seinen Mitschülern nach deren Eltern, die geschieden waren oder sich andauernd stritten, was in so kleinen Orten schnell bekannt und gern Gegenstand ausführlicher Erörterungen wurde.

      Hannes hatte für Informationen jeder Art ein sehr offenes Ohr. Und da er meist unbeteiligt wirkte, nahm man ihn als Zuhörer nicht wahr. Dennoch lauschte er den Gesprächen, die man in seiner Nähe führte, aufmerksam und speicherte sie in seinen Hirnwindungen ab, um sie gegebenenfalls bei passender Gelegenheit als Trumpfkarte aus dem Ärmel zu ziehen. Manchmal auch nur für sich selbst, im Stillen. So begriff er am Beispiel der Erzählungen, dass es durchaus unterschiedliche Arten von Elternpaaren gab. Eltern, die ihre Kinder in ein enges Gespinst von Strafen hüllten. Eltern, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt verfolgten, um Schaden von ihnen abzuwenden, sie biologisch wertvoll ernährten und sie keinen Moment unbeobachtet ließen. Eltern, die ihren Kindern wenig Beachtung und keine Liebe schenkten, als hätte es sich bei deren Herstellung um ein bedauerliches Versehen gehandelt. Eltern, die mit Ehrgeiz ihre Kinder zu Höchstleistungen antrieben und sie mit