Der Religionsunterricht garantiert als reflektierte Form der Rechenschaft über den christlichen Glauben genauso wenig wie andere Formen kirchlichen Lebens, dass es solche Menschen gibt. Das zu erwarten, würde bedeuten, dieses Fach wie auch die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler zu überfordern. Vielleicht müsste man sogar selbstkritisch anerkennen, dass der faktische Religionsunterricht von diesem Ideal oft weit entfernt ist. Aber trotzdem ist es wichtig, mit dem Religionsunterricht einen „Ort“ offen zu halten, an dem sich in der Begegnung mit Gott und der Gottesfrage jene beunruhigende, den alltäglichen Horizont durchbrechende Differenz ereignen kann, auf die gerade die spätmoderne Welt angewiesen bleibt, um der allzu menschlichen Verführung, selber Götter und Idole zu schaffen, entgehen zu können.
4 Sendung, Vorbild und Zeuge
Der Religionsunterricht ist thematisch äußerst facettenreich. Doch steht hinter allen Themen gleichsam wie ein Wasserzeichen die befreiende Botschaft eines liebenden Gottes, welcher der ganz Andere zur Welt ist und sich in dieser Andersheit zugleich radikal auf die Welt eingelassen hat und in der Welt gegenwärtig ist. Diese Botschaft kann, um wirklich befreiend zu sein, keine abstrakte Lehre sein, die von außen als Theorie vorgetragen wird. Die Logik des Funktionalismus wird von einem solchen bloß dozierten Gott nicht durchbrochen. Radikal in Frage gestellt wird sie jedoch dann, wenn sich Gott in einem erfahrenen Sprechen von ihm, das von einem prinzipiellen Bekenntnis zu ihm und von einem Verhältnis mit ihm getragen ist, als der ganz Andere, der auf keinen Begriff gebracht werden kann, als der Fremde, der alle Idole, die Menschen sich machen, in Frage stellt, und als der zugleich ganz Nahe, der im und beim Menschen wohnt und ihn anspricht und herausfordert, zeigt.
Aus diesem Grund ist das persönliche Bekenntnis der Lehrerinnen und Lehrer unverzichtbar. Denn sie sind Zeugen (übrigens sollten sie auch in anderen Fächern „Zeugen“ sein, die persönlich für etwas eintreten und aus eigenen Erfahrungen heraus von etwas sprechen – denn ohne eine Pädagogik der Liebe, Leidenschaft und Begeisterung wäre der Unterricht ein sehr zähes und rein äußerlich-technisches Vermittlungsgeschäft). Sie stehen für etwas ein und können darin Vorbild für die Schülerinnen und Schüler sein, die selbst religiös sind oder von einer religiösen Sehnsucht erfasst sind. In dieser Vorbildlichkeit können sie den Schülerinnen und Schülern helfen, selbst eine religiöse Haltung zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Auch hier zeigt sich die Herausforderung der res mixta als Chance und Potenzial.
Zugleich ist die Begegnung mit solchen Lehrerinnen und Lehrern und mit der Gottesfrage auch für Schülerinnen und Schüler wichtig, die selbst nicht religiös sind oder sich als religiös nicht musikalisch verstehen (manchmal entscheiden sich diese ja auch für den konfessionellen Religionsunterricht oder sie begegnen den Religionslehrerinnen und -lehrern in anderen Fächern), und zwar nicht nur als Einübung in die Praxis der Religionsfreiheit – die ihnen gewährt wird und die sie wiederum anderen zusprechen. Denn gerade wer Atheist oder religiös indifferent ist, sollte, um seinen Atheismus oder seine Gleichgültigkeit zu verstehen und so intellektuell redlich und nicht nur aus Mode, geistiger Faulheit oder Protest nicht an Gott zu glauben oder ihm gleichgültig gegenüber zu stehen, sich mit jenem Gott auseinandersetzen, den er leugnet oder dem er mit Desinteresse begegnet, um zu verstehen, an wen er – aus vielleicht sehr guten Gründen – nicht glaubt und was dies bedeutet. Dabei mag er mit einer Sehnsucht nach dem ganz Anderen konfrontiert werden, die ihn dazu führen könnte, die eigenen Überzeugungen kritisch zu hinterfragen. Zumindest aber müsste er in einem Religionsunterricht, der sich auch als inhaltlich anspruchsvolles Fach versteht (was faktisch nicht immer in gleichem Maße garantiert ist), dazu befähigt werden, anzuerkennen, dass der Glaube an Gott nicht unvernünftig oder unplausibel ist. Es sprechen gute Gründe für diesen Glauben, denen man freilich – weil der Glaube ein Freiheitsgeschehen ist – nicht folgen muss.
5 Wahrheit, Welt und Würde
Die Gottesfrage zu stellen oder sie positiv zu beantworten, bedeutet kein Opfer der Vernunft. Es wäre vielmehr zutiefst unvernünftig und seinerseits Zeugnis einer bestimmten, nämlich zumindest religiös indifferenten oder gar Gott gegenüber feindlichen Glaubenshaltung, die Gottesfrage zu tabuisieren oder die Auseinandersetzung mit dieser Frage von vornherein als unvernünftig zu betrachten. Der christliche Glaube ist nicht wider- oder unvernünftig noch geht er einfach über die Vernunft hinaus, so dass man mittels der Vernunft gar nichts über den christlichen Glauben sagen könnte. Ganz im Gegenteil stehen im Christentum Glaube und Vernunft in einem engen Verhältnis zueinander, ja, in einem Dialog miteinander und bereichern einander. Es gibt Dimensionen des Glaubens, die nur im eigenen Glaubensvollzug zu erfassen sind und sich der allgemeinen Vernunft und sogar der Sprache entziehen. Aber das bedeutet nicht, dass die Vernunft angesichts des Glauben nur kapitulieren kann. Vielmehr kann sie dem Glauben helfen, sich selbst besser zu verstehen und sich so auch vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Glaube ist daher auf Vernunft hin orientiert.
Die Vernunft wird ihrerseits von einem Bezug auf den Glauben vertieft. Vielleicht ist ein starker, nicht auf bloße Konventionen oder praktische Interessen reduzierter Wahrheitsbegriff letztlich in vollem Umfang nur im Lichte des Glaubens an einen Gott zu verstehen, der selbst die Wahrheit ist. Nietzsche wusste zum Beispiel, dass, wenn es keinen Gott mehr gebe, auch ein starker Begriff der Wahrheit ins Schwanken gerate. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Glauben, so zeigt sich, lässt die Vernunft nicht unverändert, sondern wandelt sie und macht sie für bestimmte Perspektiven auf die Wirklichkeit offen, die ansonsten nicht eingenommen werden können. Im Lichte des Glaubens zeigt sich keine andere Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit erscheint anders. Genau dies hat Konsequenzen für die Vernunft – im Grunde bis zu unserem heutigen Verständnis von Vernunft, das gar nicht so rein weltlich, also rein säkular ist, wie es oft erscheint. Auch für diesen Umstand – die vielfältigen Resonanzen des christlichen Glaubens in der säkularen Welt des 21. Jahrhunderts – kann der Religionsunterricht sensibilisieren.
An dieser Stelle kann ich nur kurz auf zwei in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte verweisen, darauf nämlich, dass für die Entwicklung des modernen Weltverständnisses und des modernen Sozialstaates das Christentum – und somit eine vom Christentum geprägte Vernunft – eine wichtige Rolle gespielt hat. So hat das biblische Schöpfungsverständnis die Welt zu ihrer Weltlichkeit befreit. Sie ist als von Gott geschaffen nicht mehr etwas Göttliches und kann mittels einer autonomen, nicht von religiösen Vorgaben oder Voraussetzungen abhängigen Vernunft in ihrem Wesen gedeutet werden. Dadurch wurde eine ganz andere Form der wissenschaftlichen Erkenntnis und auch der technischen Weltbeherrschung möglich als zu jener Zeit, als die Welt selbst als göttliches Phänomen oder als Wirkort verschiedenster Göttinnen und Götter wahrgenommen wurde. Zumindest historisch hat der christliche Glaube daher eine wichtige Rolle für die Entwicklung des modernen Weltverhältnisses gespielt. Ob diese Rationalität auch Bestand haben wird, wenn der christliche Glaube lebensweltlich immer weiter an Bedeutung verliert, ist eine durchaus offene Frage.
Diese Transformation menschlicher Vernunft durch das Christentum findet sich nicht nur im Verhältnis des modernen Menschen