2 Überraschende Konstellation
Vor dem Hintergrund des skizzierten Säkularisierungs- und Heterogenisierungsschubs würde man kaum erwarten, dass auch außerhalb religiöser Selbstverständigungsprozesse der Beitrag religiöser Bildung zum schulischen Bildungsauftrag in einem elementaren Sinne gewürdigt wird. Angesichts der höchst schwierigen, bis heute anhaltenden Geschichte zwischen Pädagogik und Religionspädagogik reibt man sich verwundert die Augen, was derzeit in der Bildungstheorie geschieht. In ihr spielt Religion wieder eine Rolle. Kurz gesagt: Ohne Religion in Bildungsprozessen würde der Bildung Elementares fehlen. Bildung würde degenerieren zu dem, was Theodor W. Adorno unter anderen Vorzeichen Halbbildung genannt hat. Bildung sei nur dort gegeben, wo Religion grundlegend in den Bildungsprozess eingespielt würde. Man findet solches in der Allgemeinen Pädagogik,12 aber auch in der Schulpädagogik. Vor dem Hintergrund der Bildungstheorie des Bildungsforschers Jürgen Baumert entwickelt etwa in prominenter Weise die PISA-Studie einen Bildungsbegriff, der auf der inneren Zuordnung unterschiedlicher Modi der Weltbegegnung beruht. Man kann sich demnach ganz unterschiedlich zur Welt verhalten. Jedem Modus der Welt zu begegnen, sind bestimmte Formen von Rationalität und bestimmte Schulfächer zugeordnet. Man kann die Welt mal rechnerisch in Zahlen denken, man kann sie auf Schönheit hin wahrnehmen, kann versuchen, sie zu gestalten und kritisch zu bewerten. Man kann ihr aber auch auf den Grund gehen und nach dem fragen, was die Welt im Letzten zusammenhält. Die PISA-Studie unterscheidet demnach vier Arten der Weltbegegnung: 1. Kognitive-instrumentelle Rationalität, gepflegt vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern; 2. ästhetisch-expressive Rationalität, vorausgesetzt besonders in sprachlichen Fächern und in Kunst und Musik; 3. normativ-evaluative Rationalität, kultiviert in Fächern wie Geschichte, Wirtschaft, Politik; 4. religiös-konstitutive Rationalität. Hier geht es um die rationale Auseinandersetzung mit Fragen der Letztbegründung, von Sinn in den Fächern Philosophie und eben Religion.13
Erkennbar wird hier eine bildungstheoretische Begründung dafür, dass alle Fächer der Schule tatsächlich dorthin gehören. Das Spannende für den Religionsunterricht liegt darin, dass auch er ganz wesentlich seinen Platz dort hat. Allgemeinbildung als Zielhorizont von Schule erwächst daraus, dass diese vier unterschiedlichen Weisen der Welt zu begegnen in der Schule vertreten sind. Kein Weltzugang kann den anderen ersetzen oder gar dominieren, auch wenn manche Fachlehrer in der Begeisterung für ihr Fach das anders sehen. Jedem kommt seine Wahrheit zu. Ohne diese bestimmte Form, ohne diesen bestimmten Zugang gibt es keine Allgemeinbildung. Bildungsprozesse sind deshalb um ihrer selbst willen dringend auf die Entfaltung aller Wirklichkeitszugänge mit den jeweiligen Rationalitätsformen angewiesen.
Der Ertrag für die religiöse Bildung ist enorm. Hier wird religiöse Bildung in ein Konzept von Allgemeinbildung sowie in eine Neufassung eines Bildungskanons eingeschrieben und damit der Religionsunterricht als schulisches Unterrichtsfach legitimiert, ja sogar eingefordert. Schüler brauchen also Religion, um Bildung zu erfahren. Aber kann die Religionspädagogik ein solches Angebot einfach annehmen? Bernhard Dressler hat mit einer ähnlichen, von Friedrich Schleiermacher und der Systemtheorie noch angeschärften Begründungsarchitektur wiederholt so argumentiert.14 Impliziert indessen der religiöse Bildungsbegriff nicht doch kritische Aspekte, die schärfer eingebracht werden müssten? Dies erfordert nun bildungstheoretische Überlegungen.
3 Mehr als alles: Religiöse Bildung
Aber ‚Bildung‘ ist kein Begriff, der sich von selbst versteht. Bildung geht, diametral anders gelagert als Erziehung und Sozialisation,15 vom Subjekt aus und zielt letztlich auf das Subjekt. Das Subjekt ist Träger eines Bildungsprozesses. In ihm setzt sich ein Subjekt aktiv, kritisch und konstruktiv mit seiner Objektwelt, mit Mensch und Umwelt, Kultur und Gesellschaft auseinander. Bildung vollzieht sich immer in der thematischen wie kritischen Auseinandersetzung mit etwas, ist sie doch die Bildung des Subjekts im Horizont des Allgemeinen. Das ‚Allgemeine der Bildung‘, „repräsentiert (1) eine Möglichkeit und einen Anspruch aller Menschen, letztlich der Menschheit im Ganzen; es zielt (2) auf die Entfaltung aller menschlichen Möglichkeiten, sofern sie mit der Selbstbestimmung und Entwicklung aller anderen Menschen vereinbar ist; es meint (3), dass sich Bildung im Medium des Allgemeinen vollziehen sollte, d. h. in Auseinandersetzung mit dem gemeinsam Angehenden“16. So vollzieht sich Bildung in der Einsicht in die Mitverantwortung für und in der kritisch-konstruktiven Arbeit an den Schlüsselproblemen der Gegenwart, zu denen Wolfgang Klafki neben Frieden, Umwelt, Demokratisierung von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, Arbeit in seinen späteren Arbeiten auch die Religion zählt.17
Nicht der Vielwissende, nicht der Mobile, Funktionierende, nicht der Angepasste und in politische Zusammenhänge, in Kultur und Gesellschaft und Ökonomie Eingepasste, sondern der selbstverantwortliche, freie, mündige, urteilsfähige Mensch ist in den Traditionen Jean-Jacques Rousseaus, Immanuel Kants, Johann Gottfried Herders, Friedrich Schillers, Wilhelm von Humboldts das Ziel von Bildung. Bildung zielt auf Emanzipation und Aufklärung, auf die Verwirklichung der menschlichen Bestimmung. „Ein humanistisches Bildungsverständnis beruht auf dem Ideal der Autonomie. Die Fähigkeit, ein Leben nach eigenen Regeln, frei und verantwortlich zu führen, ist oberstes humanistisches Bildungsziel. Eine entwickelte Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit sind Voraussetzungen für ein autonomes Leben.“18 Die aus jüdisch-christlichen Traditionen in den Bildungsbegriff eingespeiste Theologie der Gottebenbildlichkeit steht dabei in spezifischer Weise für die innergeschichtliche Unabschließbarkeit, den utopischen Überschuss von Bildung wie die konstitutive Konfrontation mit Alterität. Dies verloren zu haben, ist nach Käte Meyer-Drawe eine der zentralen Verluste moderner Bildungstheorie.19 In einer kritischen Relecture des Zusammenhangs von negativer Theologie und Gottebenbildlichkeit untersucht sie, „wie diese Asymmetrie von Ebenbildlichkeit und Bilderverbot im Bildungsdiskurs wirksam wurde. Dem Menschen als Ebenbild Gottes war von Anfang an ein Geheimnis eingeschrieben, eine eigene Fremdheit, die aus der Sicht der Menschen erst dann gemildert werden konnte, als Werke erdacht wurden, wie der Mensch seine Gottebenbildlichkeit mitgestalten konnte.“20
Denn freilich kann sich andererseits ein Subjekt nur selber bilden. Bildung lebt von der Selbsttätigkeit der Subjekte, die sich ihre Ziele selber setzen. Wohl zielen Bildungsprozesse darauf ab, einen anderen zum Subjektsein zu befähigen, wobei diese Bildungsprozesse wiederum ihr Maß finden an der potenziellen Selbstbestimmung des Menschen. Das „pädagogische Paradox“, die Aporie, wie eben Freiheit und Mündigkeit angebahnt werden können in einem Verhältnis von Zwang und Ungleichheit, in dem sich der Zögling immer auch kritisch gegen die eingebrachten Inhalte, Normen und gewählten Methoden soll wenden können, bleibt unaufhebbar.21
Der Bildungsbegriff zeigt damit eine spannungsvolle Doppelstruktur: die Spannung von indukativer und edukativer Dimension, von Vorgabe und Transformation, von Affirmation und Kritik. Bildung führt in Wirklichkeitszusammenhänge ein und setzt die Subjekte dabei zugleich frei, indem sie Wahrnehmungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit, Handlungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit im Vollzug anbahnt. Ein solches Verständnis bindet die Bildungsprozesse in Bedingungsverhältnisse ein, die selber im Hinblick auf Mündigkeit bildungsbedürftig sind. Ein solcher Bildungsbegriff zielt auf die Konstituierung freier Subjekte und deren Befähigung zur „Identität in universaler Solidarität“.22 Als solcher weiß er sich verantwortlich für seine gesellschaftlich-politischen wie kulturellen Voraussetzungen. Hierin liegt die Bedeutung eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs, der freilich unter den veränderten gegenwärtigen Kontextbedingungen der Naturalisierung des Geistes, der Entsubjektivierungsprozesse in Freizeitindustrie und globalisiertem Kapitalismus kritisch fortgeschrieben werden muss.23
Indessen bleibt ein pädagogischer Bildungsbegriff in sich widersprüchlich, kann er doch in Anbetracht der Endlichkeit und Verletzlichkeit, in Anbetracht der Toten, der Geschlagenen und der geschichtlichen Opfer nicht eigentlich für das aufkommen, was er in der Zielbestimmung universaler Solidarität eigentlich anvisiert. Bildung greift vor auf eine absolute, aus dem Tod rettende Freiheit. Die Fragen nach den Toten und den ausgeschlossenen, benachteiligten Anderen sich nicht ausreden zu lassen, sie stets