In den folgenden Kapiteln wird näher auf eine Caring Economy eingegangen. In diesem Zusammenhang soll noch einmal klargestellt werden, dass Care-Arbeit oder Fürsorgearbeit hier Tätigkeiten bezeichnet, die von Empathie, Verantwortungsbewusstsein und der Sorge um das Wohlergehen der Menschen und ihre optimale Entwicklung getragen werden. Außerdem wird in einer Care-Kultur Fürsorge und Care-Arbeit in allen Lebensbereichen sichtbar gemacht und wertgeschätzt – von den Privathaushalten und Kommunen bis hin zu den Unternehmen und der Politik.
1.5 Die Schaffung einer Caring Economy
Wir befinden uns an einem Kipppunkt, einem Wendepunkt der Weltgeschichte, der nicht weniger verlangt als einen grundlegenden Wandel. Wenn wir die wirtschaftlichen Kenngrößen betrachten, die auf den folgenden Seiten aufgeführt werden, erkennen wir, dass wir in der Weltwirtschaft gigantische Verluste zu verzeichnen haben. Es wird mehr als deutlich, dass wir unser natürliches Umfeld nicht weiterhin so ausbeuten und verschmutzen können wie bisher. Und es wird klar, dass wir – wenn wir ein erfüllteres und sorgenfreieres Leben führen wollen – Fürsorge und Care-Arbeit angemessen wertschätzen müssen, und zwar nicht nur die im Rahmen der Marktwirtschaft geleistete Care-Arbeit, sondern auch die Care-Arbeit in allen anderen Wirtschaftssektoren – angefangen bei den Privathaushalten bis hin zur Ressourcenwirtschaft.
Wir erliegen einer Selbsttäuschung, wenn wir glauben, wir könnten unsere Umweltprobleme allein durch weniger umweltschädliche Technologien oder eine Änderung unseres Konsumverhaltens lösen. Selbst wenn wir in dieser Hinsicht Erfolg hätten – was eher zweifelhaft ist, wenn wir uns nicht tiefergehend mit den Ursachen auseinandersetzen – würden immer wieder neue Krisen entstehen, solange wir keine fundamentalen Veränderungen vornehmen.
Voraussetzung für solche Veränderungen ist, dass wir uns bewusst werden, dass sich die ökonomischen Strukturen und Regeln sowie das Wertesystem einer Gesellschaft und ihrer Institutionen wie in einer Endlosschleife ständig wechselseitig beeinflussen. In Zeiten sozialen Gleichgewichts ist diese Schleife recht stabil und das dahinterstehende Wertesystem wird für so selbstverständlich erachtet, dass es gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. In Zeiten starker Unbeständigkeit oder Ungleichheit wie den unseren treten die dem System zugrunde liegenden Strukturen und Werte jedoch deutlicher hervor. Deshalb sind heute grundlegende Veränderungen möglich – also Veränderungen, die das System transformieren, anstatt es einfach nur in gewissem Grade zu modifizieren.
Um eine Caring Economy zu entwickeln, müssen wir uns nicht nur auf die Wirtschaftstheorie und -praxis konzentrieren, sondern auch auf kulturelle Werte und gesellschaftliche Institutionen. Als Ausgangspunkt hierfür dienen drei Fragen:
1 1. Welchen Eigenschaften, Tätigkeiten, Dienstleistungen und Produkten wollen wir einen hohen bzw. einen niedrigen wirtschaftlichen Wert zuerkennen?
2 2. Können wir tatsächlich eine soziale und umweltfreundliche Wirtschaftspolitik und -praxis erwarten, solange Fürsorge nicht gesellschaftlich wertgeschätzt und finanziell anerkannt wird?
3 3. Welche wirtschaftlichen Konstrukte sind nötig, um ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das stärker auf Fürsorge basiert und effektiver, innovativer und nachhaltiger ist als unser aktuelles?
Sämtliche wirtschaftlichen Institutionen sind Konstrukte – angefangen von Banken über Aktienbörsen, Sozialversicherungssysteme und Gesundheitsfürsorge bis hin zu Kolonialismus, Sweatshops und Kinderarbeit. Arbeitslosenversicherung und Elternzeit sind wirtschaftliche Konstrukte, die eine stärkere Fürsorge für alle Mitglieder einer Gruppe garantieren sollen. Aber auch Sklaverei und Zwangsarbeitslager sind wirtschaftliche Konstrukte – diese sind jedoch wie Sweatshops, Kolonialismus und Kinderarbeit darauf ausgerichtet, bestimmte Mitglieder einer Gruppe effektiver auszubeuten oder sie sogar, falls »nötig«, umzubringen.
Anders ausgedrückt ist ein wirtschaftliches Konstrukt eine Möglichkeit, natürliche, menschliche und menschengemachte Ressourcen zu nutzen und zu verteilen. Aber welcher Art diese Konstrukte sind – und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen – hängt vom herrschenden Wertesystem und den auf diesem Wertesystem basierenden gesellschaftlichen Institutionen ab. In unserer Zeit, in der wir – von Werten wie Eroberung, Ausbeutung und Dominanz geleitet – unser Überleben durch Fortschrittstechnologien gefährden, brauchen wir einen Wandel zu einem Fürsorge-Ethos sowie wirtschaftliche Konstrukte, die von einem solchen Ethos getragen werden. Wir brauchen eine Care-Revolution.
Wir müssen entscheiden, welche bestehenden wirtschaftlichen Konstrukte wir beibehalten und welche wir verwerfen wollen. Außerdem müssen wir neue wirtschaftliche Kennzahlen und Regeln sowie politische Strategien und Praktiken entwickeln, die sich an Werten orientieren, die der gerechteren und nachhaltigeren Zukunft entsprechen, die wir uns wünschen und die wir brauchen. Vor allem aber müssen wir das kulturelle Fundament, auf dem sowohl das kapitalistische als auch das kommunistische Wirtschaftssystem basieren, neu errichten und darauf aufbauend ein neues Wirtschaftssystem entwickeln, in dem die grundlegendste menschliche Tätigkeit – die Care-Arbeit – echte Wertschätzung erfährt.
Eine Caring Economy fördert Fürsorge und Care-Arbeit im privaten Bereich ebenso wie in Organisationen, in der Gesellschaft und in Hinblick auf unsere Mitwelt. Sie berücksichtigt das vollständige Spektrum der menschlichen Bedürfnisse, also nicht nur unsere materiellen Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft, sondern auch unser Bedürfnis nach sinnvoller Betätigung und Lebenssinn. Dieses Wirtschaftssystem ist in ein Gesellschaftssystem integrierbar, das auf Partnerschaft, also gegenseitigem Respekt und Verantwortlichkeit beruht (Partnerschaftssystem), und passt nicht zu einem hierarchischen Gesellschaftssystem der Dominanz (Dominanzsystem).
Die unterschiedlichen Strukturen dieser beiden Modelle (des Partnerschafts- und des Dominanzsystems), die über die herkömmlichen Kategorien von rechts/links, kapitalistisch/sozialistisch und religiös/weltlich hinausgehen, werden in Kapitel 2 beschrieben.
1.6 Die sechs Grundpfeiler einer Caring Economy
Eine Caring Economy beruht auf sechs Pfeilern: einem ganzheitlichen Wirtschaftsmodell; kulturellen Überzeugungen und Institutionen, die Fürsorge und Care-Arbeit wertschätzen; einer Wirtschaftsordnung, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftspraxis, die auf Fürsorge basieren; umfassenden und realitätsgetreuen wirtschaftlichen Kennzahlen; partnerschaftlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen sowie einer Wirtschaftstheorie, die hier als Partnerismus bezeichnet wird, da sie sowohl die partnerschaftlichen Elemente des Kapitalismus als auch die des Sozialismus beinhaltet, aber zugleich über diese beiden Systeme hinausgeht, indem sie die essenzielle wirtschaftliche Bedeutung der Fürsorge für uns, unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt (an)erkennt.
Der Wandel hin zu einer Caring Economy wird sich nicht abrupt, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg vollziehen. Er wird schrittweise erfolgen, und jede Verbesserung in einem Bereich wird eine Kaskade von Änderungen in allen anderen Bereichen anstoßen. Wenn sich unsere Vorstellungen davon ändern, was wirtschaftlich als produktiv gilt und was nicht, werden wir Wirtschaft neu denken – und das wiederum wird zu realitätsgetreueren wirtschaftlichen Kennzahlen führen. Diese geänderten Überzeugungen und Kennzahlen werden eine Entwicklung hin zu einer stärker auf Fürsorge basierenden Wirtschaftspolitik und -praxis beflügeln, was wiederum zu mehr partnerschaftlich orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen führt sowie zur Entwicklung eines ganzheitlichen Wirtschaftsmodells, umfassenderen wirtschaftlichen Theorien und Kennzahlen sowie kulturellen Überzeugungen und Institutionen, die Fürsorge und Care-Arbeit wertschätzen.
Anders ausgedrückt: Jeder Fortschritt auf einem dieser Gebiete treibt den Fortschritt in den anderen Bereichen voran. Je weiter wir in einem der Bereiche voranschreiten, desto schneller werden wir Veränderungen im gesamten Wirtschaftssystem beobachten können.
Der erste Schritt besteht darin, dass wir im öffentlichen Diskurs den Begriff »Care« mit dem Wirtschaftsbegriff verknüpfen und ein Bewusstsein dafür schaffen, welche wirtschaftliche Bedeutung Fürsorge hat. Das ist etwas, das jeder von uns tun kann.