Diese hierarchische Kontrolle war typisch für frühere feudalistische und monarchische Gesellschaften, als ein noch sehr viel ausgeprägteres Dominanzsystem herrschte. Tatsächlich stammen viele Grundannahmen, auf denen unsere aktuelle Wirtschaftspolitik und -praxis beruhen, aus Zeiten, als Könige über Untertanen regierten und jedem, der von Freiheit und Gleichheit redete, grausame öffentlich inszenierte Foltermaßnahmen und Hinrichtung drohten. Diese Zeiten, in denen despotische Väter über die Familien herrschten und despotische Adlige und Könige über Stadtstaaten, Lehen und Länder, sind noch gar nicht so lange her – und wir haben sie keineswegs und nirgendwo auf der Welt vollständig hinter uns gelassen.
Aus diesen sehr viel ausgeprägteren Dominanzgesellschaften mit ihrer breiten Unterschicht aus Sklaven, Leibeigenen und später fast völlig verarmten Fabrikarbeitern stammt die heute noch immer verbreitete Annahme, dass die Angst vor Schmerz und Mangel der Hauptgrund dafür sei, dass Menschen arbeiten. Und noch heute wird die Wirtschaftswissenschaft in weiten Kreisen als eine Wissenschaft definiert, die sich damit beschäftigt, eine begrenzte Anzahl von Gütern in einer Welt unbegrenzter Bedürfnisse zu verteilen.6
Diese Definition basiert auf zwei Grundannahmen: unausweichlichem Mangel und einer dem Menschen inhärenten Gier, die zu unbegrenzten Wünschen und Forderungen führt. Tatsächlich ist es so, dass diese Definition nicht die Wirtschaft an sich beschreibt, sondern die Wirtschaft in einem Dominanzsystem. Und selbst hier halten diese Grundannahmen einer näheren Überprüfung nicht stand.
Zwar kommt es manchmal vor, dass Naturereignisse einen Mangel verursachen, aber in dominanzgeprägten Wirtschaftssystemen wird Mangel – und damit Leid und Angst – systematisch künstlich erzeugt und aufrechterhalten und zwar durch eine ungleiche Verteilung der Ressourcen zugunsten der oberen Gesellschaftsschichten, durch hohe Rüstungsinvestitionen, durch fehlende Investitionen in die menschlichen Grundbedürfnisse, durch rücksichtslose Ausbeutung der Natur sowie durch Verschwendung natürlicher und menschlicher Ressourcen durch Kriege und andere Formen der Gewalt – all dies Charakteristika eines Dominanzsystems.
Darüber hinaus ist es in Dominanzsystemen schwierig, unsere menschlichen Grundbedürfnisse – darunter auch unser Bedürfnis nach Wertschätzung, Fürsorge, Liebe, Anerkennung und Lebenssinn – zu befriedigen, sodass Menschen in diesen Systemen kaum Zufriedenheit finden können. Auf diesem Weg erzeugt ein Dominanzsystem künstlich Gier und den unersättlichen Wunsch nach mehr materiellem Besitz und Status. Dieses Gefühl, niemals genug zu bekommen, wird heute noch von Werbekampagnen angefacht, die künstliche und zum Teil schädliche Bedürfnisse und Wünsche generieren.
Wenn man den Einfluss dieser künstlich geschaffenen Mangelgefühle und der ebenso künstlich generierten Bedürfnisse und Wünsche in die Betrachtung miteinbezieht, zeigt sich ein ganz anderes Bild von Angebot und Nachfrage, als es uns in den üblichen Darstellungen des Wirtschaftsgeschehens präsentiert wird. Der Marktwert einer Sache wird also oft von Dynamiken verzerrt, die auf Vorannahmen aus Dominanzsystemen beruhen und verhindern, dass die tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden.
Außerdem herrscht in Dominanzsystemen und damit auch in der Wirtschaft von Dominanzsystemen typischerweise eine Kultur des Misstrauens und der Feindseligkeit, wobei den Übergeordneten unbedingter Respekt und Gehorsam gezollt werden müssen.
Der in Dominanzsystemen verbreitete Mythos, dass Menschen grundsätzlich böse und selbstsüchtig seien und daher einer strikten hierarchischen Kontrolle unterworfen werden müssten, gehört zu den Grundpfeilern des dominanzgeprägten Denkens. Er findet sich sowohl in der religiösen Vorstellung der Erbsünde als auch in den soziobiologischen Theorien über egoistische Gene wieder.
Diese Ansicht über die menschliche Natur ist integraler Bestandteil weit verbreiteter Theorien zur freien Marktwirtschaft, die auf der Annahme beruhen, dass in einem Wirtschaftssystem alle davon profitieren, wenn einfach jeder seine eigenen Interessen verfolgt. Natürlich käme keiner auf die Idee, einem Kind zu erklären, dass alles perfekt funktioniert, wenn jeder nur an sich selbst denkt. Und trotzdem wird diese Vorstellung weiterhin verbreitet – wobei dadurch keineswegs eine freie Marktwirtschaft gefördert wird (die unter solchen Voraussetzungen gar nicht funktionieren könnte), sondern es zu einer Idealisierung der Gier kommt, von der die Wirtschaft in Dominanzsystemen angetrieben wird.
Eine weitere tradierte Grundannahme besteht darin, dass »weiche« Eigenschaften und Tätigkeiten – wie zum Beispiel Friedfertigkeit oder Fürsorge – für die Führung einer Gesellschaft oder Wirtschaft ungeeignet seien. Dazu gehört unter anderem auch die Annahme, Fürsorge und Care-Arbeit seien für die Produktivität hinderlich oder im besten Fall wirtschaftlich irrelevant. Anders ausgedrückt: Wir haben aus der Vergangenheit kulturelle Überzeugungen und Institutionen übernommen, die der Fürsorge und Care-Arbeit nicht zu-, sondern abträglich sind – und das hat zu zahlreichen unrealistischen wirtschaftlichen Theorien, Regeln, Maßnahmen und Praktiken geführt, die uns zunehmend gefährden.
2.3 Das unsichtbare Bewertungssystem
Gäbe es keine Fürsorge für Kinder, Kranke und Alte, dann wäre niemand von uns am Leben. Und wenn niemand sich um unsere alltäglichen Bedürfnisse wie Nahrung, saubere Kleidung und eine wohnliche Unterkunft kümmern würde, wäre es schlecht um uns bestellt. Ohne Fürsorge gäbe es keine Arbeitskräfte, die ihrer Arbeit nachgehen und in Unternehmen tätig sein könnten.
Warum wird dieser elementaren Care-Arbeit also so wenig wirtschaftlicher Wert beigemessen? Warum wurde Rücksichtslosigkeit in Unternehmen systematisch gefördert – gemäß dem alten Rechtsgrundsatz caveat emptor 7 ? Warum werden Menschen, die sich unermüdlich für eine sozialere und gerechtere Gesellschaft einsetzen, oft als »Gutmenschen« oder »sentimentale Spinner« verunglimpft? Und warum gelten Frauen (und zunehmend auch Männer), die sich in der nicht monetären Wirtschaft der Privathaushalte und des Ehrenamtes rund um die Uhr um Kinder, Kranke und Ältere kümmern, immer noch als »wirtschaftlich untätig«?
Die Abwertung der für uns überlebensnotwendigen Care-Arbeit – und die damit einhergehende Abwertung der Fürsorge an sich – entbehrt jeglicher Logik. Sie beruht einzig und allein auf Überzeugungen, die aus einer Zeit stammen, als unsere Gesellschaft noch sehr viel mehr von einem Dominanzsystem geprägt war: einer Form der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation, die auf von Angst und Zwang gestützten Hierarchien basiert.
Ein Grundpfeiler dieses hierarchischen Systems bestand darin, dass die männliche Hälfte der Menschheit der weiblichen Hälfte übergeordnet war – was dazu führte, dass Männer und stereotyp »Männliches« automatisch als wertvoller betrachtet wurden als Frauen und stereotyp »Weibliches«. Das heißt, im Zuge der Unterordnung der Frauen unter die Männer wurde alles, was mit »echter« Männlichkeit assoziiert war, höher bewertet als das, was typischerweise mit Frauen und Weiblichkeit verbunden wurde, wie zum Beispiel Fürsorge und Care-Arbeit. Dieses Bewertungssystem spiegelt sich in allen Wirtschaftssystemen wider, die Fürsorge und Care-Arbeit nur geringen oder gar keinen Wert zuerkennen – unabhängig davon, ob sie stammesgesellschaftlich, feudalistisch, kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch organisiert sind.
Die Abwertung von Eigenschaften oder Tätigkeiten, die stereotypisch mit Frauen assoziiert werden, ist integraler Bestandteil der unsichtbaren Bewertungsmaßstäbe in Dominanzsystemen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um Geschlechterstereotype und nicht um etwas, was Männern oder Frauen angeboren ist. Doch diese Stereotype und die Abwertung alles »Weiblichen« sind fest in unsere wirtschaftlichen und sozialen Regeln und Modelle eingebettet, die wir aus früheren, noch stärker dominanzgeprägten Zeiten übernommen haben.
Die aktuellen Wirtschaftskennzahlen wie BIP und BNE spiegeln diese Abwertung wider und setzen sie fort. Und was in diesen Kennzahlen berücksichtigt wird – oder eben nicht – hat direkte Auswirkungen darauf, was in der Politik Berücksichtigung findet. Auf diese Weise hat unser unsichtbares, auf Geschlechterstereotypen basierendes Bewertungssystem unsere Wirtschaftspolitik geformt.
Man kann sich dieses unsichtbare Bewertungssystem wie den nicht sichtbaren Teil eines Eisbergs vorstellen – ein massives Hindernis auf dem Weg zu einer gesünderen,