Bei allen Diskussionen um Seidls Schaffen wird man eines mit Sicherheit festhalten können: Der Regisseur pflegt einen eigenen Stil, hat eine unverwechselbare Handschrift, anhand derer seine Filme wiedererkannt werden, und zwar »an den präzisen Bildkompositionen, seinen verstörenden Charakteren, einem zwischen Dokumentarismus und Fiktion strategisch unaufgelösten Naturalismus und nicht zuletzt auch an seinen Sujets. Seidls Generalthemen (Sexualität, Religion, Eifersucht, Machtfragen, Kolonialdenken, Konsumterror, Lebensunfähigkeit) werden im schwarzen Herz seines Kinos gebündelt, in seinem Überthema konzentriert: der Gottverlassenheit.«66 All dies erlaubt es, von Seidl als auteur zu sprechen, der ein konkretes Konzept hinter seiner Kunst verfolgt. Offen muss dabei letztlich bleiben, ob Seidl mit seiner Kritik an gesellschaftlichen Zuständen durch die Visualisierung eben jener Verhältnisse diese nicht auch affirmierend tradiert.
1 Stefan Grissemann, Sündenfall. Die Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl, Wien 2013, S. 14. — 2 Für Analysen von Seidls Werk bis zum Film JESUS, DU WEISST vgl. Florian Lamp, »Die Wirklichkeit, nur stilisiert«. Die Filme des Ulrich Seidl, Darmstadt 2009. Eine Untersuchung bis zur PARADIES-Trilogie liefert Grissemann, Sündenfall (s. Anm. 1). Analysen von GOOD NEWS (1990), MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992) und IMPORT EXPORT (2007) liegen vor in Martin Brady und Helen Hughes, »Import and Export. Ulrich Seidl’s Indiscreet Anthropology of Migration«, in: New Austrian Film, hg. von Robert von Dassanowsky und Oliver C. Speck, New York 2011, S. 207–224. — 3 Lamp, »Die Wirklichkeit, nur stilisiert« (s. Anm. 2), S. 32. — 4 Für eine Detailanalyse des Films vgl. ebd., S. 35–65. — 5 Zit. n. Ulrich Weinzierl, »Von Kolporteuren und anderen Wienern. Ein entlarvender Dokumentarfilm. GOOD NEWS des Österreichers Ulrich Seidl«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.3.1991, o. S. — 6 Zit. n. Birgit Schmid, »Forscher am Lebendigen. Porträt von Ulrich Seidl«, in: Filmbulletin (2003), H. 2, S. 46–55, hier S. 55. — 7 Anke Leweke, »Zungenkuss mit Hund«, in: Die Zeit, 2.6.2010, S. 49. — 8 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 47. — 9 Zit. n. ebd., S. 48. — 10 Zit. n. Max Fellmann und Wolfgang Luef, »›Der Mensch will belogen werden‹«, in: SZ Magazin, 16.2.2015, S. 20–24, hier S. 24. — 11 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 48. — 12 Josef Bierbichler, »›Er und der Valentin nehmen die Katastrophe Leben halt ernst‹«, in: Abendzeitung München, 23./24.3.2013, S. 23. — 13 Zum Weltbild in Seidls Filmen vgl. auch Matthias Frey, »The Possibility of Desire in a Conformist World. The Cinema of Ulrich Seidl«, in: New Austrian Film, hg. von Robert von Dassanowsky und Oliver C. Speck, New York 2011, S. 189–198. — 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Sandra Kristin Knocke im vorliegenden Heft. — 15 Auch in PARADIES: GLAUBE hat Rupnik einen Kurzauftritt. — 16 Vgl. Michel Foucault, »Von anderen Räumen« (1967), in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2018, S. 317–329. — 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Jörn Glasenapp im vorliegenden Heft. — 18 Vgl. Marc Augé, Nicht-Orte, München 2014. — 19 Vgl. hierzu Justin Vicari, »DOG DAYS (HUNDSTAGE)«, in: Film Quarterly, Jg. 60 (2006), H. 1, S. 40–45, hier S. 40. Vgl. zum Film überdies Justin Vicari, »DOG DAYS. Ulrich Seidl’s Fin-de-siècle Vision«, in: New Austrian Film, hg. von Robert von Dassanowsky und Oliver C. Speck, New York 2011, S. 199–206. — 20 Vgl. Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 50. — 21 Vgl. hierzu den Beitrag von Fatima Naqvi im vorliegenden Heft. — 22 Vgl. Rüdiger Suchsland, »Ulrich Seidl über seine gemischte Arbeitsweise, über Religionskritik, die fortdauernde Autorität der Kirche und warum die Franzosen seine Filme nicht mögen«, in: artechock, 28.3.2013, https://www.artechock.de/film/text/interview/s/seidl_2013_2.html (letzter Zugriff am 29.4.2020), o. S. — 23 Vgl. zum Film IMPORT EXPORT, der von verschiedenen Seiten wissenschaftlich untersucht wurde, Helga Druxes, »Female Body Traffic in Ulrich Seidl’s IMPORT/EXPORT and Ursula Biemann’s REMOTE SENSING AND EUROPLEX«, in: Seminar, Jg. 47. (2011), H. 4, S. 499–519; Michael Goddard, »Eastern Extreme. The Presentation of Eastern Europe as a Site of Monstrosity in LA VIE NOUVELLE and IMPORT/EXPORT«, in: The New Extremism in Cinema. From France to Europe, hg. von Tanya Horeck und Tina Kendall, Edinburgh 2013, S. 82–92; Anca Parculescu, »IMPORT/EXPORT: Housework in an International Frame«, in: PMLA, Jg. 127 (2012), H. 4, S. 845–862; Nikhil Sathe, »Challenging the East-West Divide in Ulrich Seidl’s IMPORT EXPORT (2007)«, in: East, West and Centre. Reframing post-1989 European Cinema, hg. von Michael Gott und Todd Herzog, Edinburgh 2014, S. 65–78. — 24 Vgl. Stefan Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen. Zu Ulrich Seidls alarmierenden Lebens- und Menschenbildern«, in: Kampfansage. Ulrich Seidls filmisches Werk, hg. von Stefan Grissemann, Wien 2017, S. 5–59, hier S. 21. — 25 Zit. n. ebd., S. 53. — 26 So heißt es im Paulusbrief: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.« 1 Kor 13,13 EU. — 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Brad Prager im vorliegenden Heft. — 28 Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen« (s. Anm. 24), S. 5. — 29 Zum fotografischen Wesen