Als auf HUNDSTAGE folgender Zwischenfilm ließe sich ZUR LAGE (2002) beschreiben. Darin begeben sich vier Regisseure, unter ihnen Seidl, anlässlich der Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Haider auf eine Spurensuche durch Österreich, und zwar hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Haltungen der Menschen. Seidl widmet sich dabei den Themen Ausländerfeindlichkeit und Alltagsrassismus. Insofern wird das Private, das in seinen anderen Filmen zumeist vorherrscht, in ZUR LAGE um eine politische Seite ergänzt. Mit JESUS, DU WEISST (2003) führt Seidl die Arbeit an seiner spezifischen Filmsprache fort. Der Film widmet sich in sechs fragmentarischen Porträts gläubigen Katholiken. In extrem starren Kameraaufnahmen21 zeigt Seidl diese Menschen und ihre intimen Beziehungen zu Jesus, etwa wenn sie ihr Gebet direkt zu Gott respektive in die Kamera sprechen. Die filmischen Zwiegespräche zwischen den Gläubigen und Jesus wurden vom Kinopublikum allerdings nicht goutiert, wenngleich JESUS, DU WEISST insgesamt auf 150 Festivals gezeigt wurde.22 Dass der Katholizismus als Kernthema Seidls zu bezeichnen ist, davon zeugt auch die auf den Film folgende Theaterarbeit für die Berliner Volksbühne, Vater Unser (2004), Porträts von sieben Christen, die in einer Flughafenkapelle beten, sowie die Tatsache, dass JESUS, DU WEISST quasi als Vorläufer zu PARADIES: GLAUBE (2012) interpretiert werden kann. Nach dem Intermezzo BRÜDER, LASST UND LUSTIG SEIN (2006), Seidls einminütigem Beitrag zum Mozartjahr 2006, neben denjenigen von 27 anderen österreichischen Filmemachern, in dem er das Sklavenchorlied aus Zaide umsetzt, seinem makabrem Stil gemäß in Bildern zweier sich selbst befriedigender Männer, arbeitet der Regisseur weiter an der ihm eigenen Filmsprache.
Nach HUNDSTAGE feiert Seidl mit IMPORT EXPORT seinen zweiten großen Erfolg: Produziert als erster Langfilm der von ihm 2003 gegründeten Produktionsfirma und eingeladen in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes 2007, widmet sich Seidl in IMPORT EXPORT der Geschichte zweier Menschen auf Arbeitssuche, Olga aus dem Osten Europas und Paul aus dem Westen. Beide reisen nach Westen bzw. Osten, ohne sich je zu begegnen, um dort Glück und Geld zu suchen. Die Krankenschwester Olga aus der Ukraine hofft in Wien auf bessere Lebensumstände, während der in seinem Beruf gescheiterte Wiener Sicherheitsmann Paul seinen Stiefvater auf einer Geschäftsreise in die Slowakei begleitet. Thematisch kreist IMPORT EXPORT um den Konnex aus Arbeit, Emigration und Sex und wurde, wie etliche Seidl-Filme zuvor und danach, heftig diskutiert. Die Kritik richtete sich dabei vor allem auf Seidls Umgang mit der Würde der dargestellten realen Personen, insbesondere der Bewohner eines Altersheimes.23
2012 ist Seidl mit der sogenannten PARADIES-Trilogie auf dem Höhepunkt seines filmischen Schaffens angekommen. Ursprünglich als ein Film geplant, mit insgesamt 90 Stunden gedrehtem Material jedoch deutlich zu umfangreich und ob dieser Materialfülle in drei Filme unterteilt,24 widmet sich das PARADIES-Werk der Suche dreier miteinander verwandter Frauen nach ihrer jeweils eigenen Form von Paradies: sei es als Sextouristin in Kenia, als Missionarin in Österreich, oder als zum Abspecken bereite Teilnehmerin in einem Diät-Camp. Innerhalb eines Jahres war Seidl mit den Trilogie-Filmen im Wettbewerb aller drei A-Festivals, Venedig, Cannes, Berlin, vertreten und erlangte so auch bei einem breiten Publikum große Bekanntheit. Seidls vom ihm als solche bezeichnete »Sehnsuchtsgeschichten«25 kreisen um den Themenkomplex aus Körperlichkeit, Sexualität und Begehren. Der Titel der PARADIES-Trilogie erweist sich dabei als Anspielung auf das Hohelied der Liebe26 sowie als Referenz an das gleichnamige Drama Ödön von Horvaths aus dem Jahr 1932. Den Auftakt zu diesem dreiteiligen Filmwerk bildet PARADIES: LIEBE (2012), der bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte und gleich mit mehreren Preisen bedacht wurde. Anhand seiner Protagonistin (Margarethe Tiesel) und deren Urlaub in Kenia in Form von Sextourismus stellt der Film ihre Suche nach Liebe ebenso dar, wie er eben jenen Sextourismus als Neokolonialismus in den Blick nimmt.27 PARADIES: GLAUBE wiederum, der im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Venedig lief und dort mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, zeigt die 50-jährige Katholikin Anna Maria (Maria Hofstätter), die an der Peripherie Wiens mittels Wandermuttergottes missioniert, sich in ihrer an eine Zwangsneurose erinnernden Gläubigkeit auf erotische Weise zu Jesus hingezogen fühlt und zu Hause ihren behinderten, muslimischen Mann quält. Skandalumwittert war eine Filmszene, in der sich Anna Maria mit dem Jesus-Kreuz selbst befriedigt, wofür Seidl in Italien wegen Blasphemie angezeigt wurde. Den Abschluss der Trilogie bildet 2013 PARADIES: HOFFNUNG, gezeigt im Wettbewerb der Berlinale. In diesem Film verliebt sich im Sinne einer Variation des Lolita-Motivs das übergewichtige, 13 Jahre alte Mädchen Melanie in einen 40 Jahre älteren Arzt in einem Diät-Camp, während ihre Mutter in Kenia weilt und ihre Tante in Wien missioniert. Ebenfalls 2013 veröffentlichte Seidl ein Fotobuch zur PARADIES-Trilogie mit Filmbildern zu den Themen Sexualität, Spiritualität und Körperlichkeit, die auch in einer Ausstellung in Berlin zu sehen waren, erneuter Ausweis der Nähe des Filmemachers Seidl zur Fotografie.
Nach dem Theaterstück Böse Buben / Fiese Männer, das 2012 in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde, legte Seidl 2014 den Film IM KELLER vor, eine Rückkehr zum episodischen Erzählen und gleichsam zum Dokumentarischen nach der PARADIES-Trilogie. IM KELLER zeigt die Obsessionen der Österreicher, die diese in ihren Kellern ausleben, so zum Beispiel zwischen Nazi-Devotionalien singende Männer, darunter inzwischen zurückgetretene Gemeinderäte der ÖVP. Seidls vorerst letzter Film, SAFARI aus dem Jahr 2016, erinnert mit seiner Darstellung des Jagdtourismus in Afrika und der ambivalenten Beziehung der Menschen zu den Tieren an TIERISCHE LIEBE 20 Jahre zuvor; beides Filme nicht über Tiere, sondern über Menschen. Und auch in SAFARI präsentiert Seidl, wie schon anhand des Sextourismus in PARADIES: LIEBE, eine Form des Neokolonialismus, hier anhand des Jagdtourismus, bei dem Tiere zum Todesopfer des Menschen werden.
Seidls Gesamtwerk umfasst damit, von 1980 bis heute, über 20 Filme, die zu seinem 65. Geburtstag in einer umfassenden DVD-Box-Sammlung nochmals veröffentlicht wurden. Und auch bei seinem aktuellen, zusammen mit Veronika Franz verantworteten Projekt, dem Spielfilm BÖSE SPIELE, geht es Seidl wieder um ein intimes Porträt, diesmal das zweier Brüder, die nach dem Tod der Mutter auf den an Demenz erkrankten Vater treffen.
II. Die Ästhetik der Seidl-Filme
Bei den von Seidl vornehmlich verwendeten Einstellungen handelt es sich vor allem um Frontalaufnahmen mit direkten, gleichsam gedehnten Blicken der Menschen in die Kamera, die expressis verbis auf das Konfrontative setzen, wie insgesamt Seidls Filme »als Angriffe, als Kampfansagen konzipiert und anstößig gemeint«28 sind. Diese langen, starren Einstellungen, die die nicht sprechenden Personen mit Frontalblick in der Bildmitte positionieren und sie wie Standbilder wirken lassen, sowie die harten Schnitte evozieren eine gewisse Distanz und machen dabei zugleich doch das Traurige im Leben fühlbar, indem sie das Verloren-Sein der Menschen im Raum zeigen. Eine grelle Farbigkeit wirkt dabei häufig wie ein harter Kontrast zur dargestellten tristen Groteske.
Charakteristisch für Seidls Filmbilder sind zudem Aufnahmen nahezu bewegungsloser Menschen, die zum Beispiel auf der Wohnzimmercouch sitzen, die wiederum in der Mitte des Raums steht. Häufig werden die Menschen auch am unteren Bildrand positioniert, wohingegen die mit großer Sorgfalt gestalteten Wände im Hintergrund die Blicke des Publikums auf sich ziehen. Auf diese Weise generiert die bewegungslose, statische Kamera starre, gerahmte Bilder, regelrechte Tableaus, die zum Markenzeichen des Regisseurs geworden sind und an die Fotografien von Diane Arbus erinnern.29 Diese Tableaus zeugen vom strengen Formwillen Seidls. Seine allenfalls um Atmo-Töne ergänzten reduzierten Bildeinstellungen erweisen sich als symmetrische,