Seidls stilistisch kohärente, negativ gewendet mitunter zum Manierismus neigende Filmbilder erfahren auf diese Weise eine Ästhetisierung, die in starkem Kontrast zu den oft verstörenden und intimen Szenen steht, die sie zeigen. Dabei bezieht sich die gezeigte Intimität zum einen auf die dargestellten Innenräume, die einem Eindringen in die häuslichen Privaträume der Menschen gleichkommt; sie ist zum anderen aber auch eine Visualisierung der Intimität des Innenlebens der Menschen und ihrer seelischen Zustände. Seidls Figuren schauen aufgrund ihrer direkten Blicke in die Kamera zurück, sie blicken quasi das Publikum an und ermöglichen auf diese Weise Fragen nach Identitätsfindung und Momente der Selbstoffenbarung gleichermaßen. An das Lacan’sche Spiegelstadium erinnernd,31 arbeitet Seidl hier gleichsam mit einer Spiegelästhetik. Daneben lässt sich von einer gewissen religiösen Aufladung der Kamera sprechen: Sie wirkt wie ein Auge, in das die Beichtenden blicken. Beim Gezeigten handelt es sich zumeist um scheinbar arretierte Momente, in denen Zeit und Raum stillstehen, obwohl technisch gesehen das Filmbild natürlich weiterläuft. Aufgrund der seriellen Montage ähnlicher, mitunter schockierender Bilder hintereinander weg, sind Seidls Filme visuelle Zeugnisse der Alltagsmonotonie. Schwenks, die die Umgebung in den Blick nehmen, bevor sie die Figuren fokussieren, werden genutzt, um das jeweilige Soziotop zu studieren.
Visueller Schockmoment in TIERISCHE LIEBE
Aufgrund der solchermaßen beschriebenen Ästhetik der Filme Seidls, nimmt es nicht wunder, dass dem Regisseur immer wieder eine gewisse pornografische Kameraführung, gar Voyeurismus vorgeworfen wurde und wird.32 Dabei changieren die Bewertungen der Seidl’schen Tableaus zwischen Anerkennung und Ablehnung. Zugute gehalten wird Seidl als dem »ultimative(n) Voyeur«,33 dass er »nach innen, von den Körpern zu den Seelen«34 vordringe. Dabei gehe es ihm vor allem darum, »den Menschen in seiner transzendentalen Obdachlosigkeit und seiner Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit zu zeigen«.35 Negativ betrachtet, werden Seidls Filme als exploitation movies gewertet, so etwa von Rüdiger Suchsland. Dieser nennt den Regisseur den »Prototyp eines Arthouse-Exploitation-Filmers«36 und will bei dessen Darstellung der afrikanischen Männer in PARADIES: LIEBE Anklänge an Leni Riefenstahls Nuba-Bilder gesehen haben, so dass Seidl mit dem Feuer der Faschismus-Ästhetik spiele: »Und wenn später auch noch die schönen nackten Männerkörper und ihre langen Schwänze ausgiebig gezeigt werden, denkt man spätestens an Riefenstahl und die Nuba.«37 Jedoch, dies sei an dieser Stelle bedacht, spielt Tiesel zwar eine Frau, die sich aufgrund ihrer naiven Exotisierung mit Riefenstahl vergleichen ließe, der Film aber kritisiert genau eine solchermaßen gelagerte Ideologie. Suchsland beruft sich bei seiner Seidl-Kritik auf die Cahiers du Cinéma, die das Werk des Österreichers als Beispiel der filmischen »Provokation um der Provokation willen«38 genannt habe, womit er eine »der ›zehn Todsünden‹ des Autorenfilms«39 begangen habe. Seidl selbst hingegen betont, dass es ihm eben gerade nicht um Provokation gehe.40 Ganz von der Hand zu weisen ist derlei Kritik womöglich nicht, jedoch ist ebenso zu konstatieren, dass Seidl den Voyeurismus, indem er ihn in und mit seinen Filmen geradezu ausstellt, zugleich thematisiert. Der Schauspieler Josef Bierbichler fasst die Spezifik des Seidl’schen Voyeurismus wie folgt zusammen: »Das nämlich tun Seidlfilme: Sie drücken unser Gesicht in den eigenen Kot. Die, die als Voyeure zu Seidl ins Kino gehen, bleiben unberührt davon. Die richten sich ein in Überheblichkeit und Häme. Die grenzen sich von den Figuren des Films ab, über die sie sich erheben. Ihnen entgeht, dass auch über sie berichtet wird. (…) Seidls Filme zeigen alle den menschlichen Körper in seiner schambedingten Befangenheit und seinem gleichzeitigen Ausgesetztsein in die Gemeinschaft der anderen Körper – also der Gesellschaft, in die er eingegliedert ist – und wie er reflexartig reagiert auf die Zwänge, die diese Gesellschaft auf ihn ausübt, die eine konsumierende ist, und die ihn wie jeden anderen vereinnahmen und in ihre Gefühlswelt pressen will.«41
Bloßgestellte Frau in PARADIES: LIEBE?
Schockierend und tabubrechend sind Seidls Bilder allemal, zeigen sie doch extreme Nacktheit und explizite Sexualität ebenso wie Gewalt, das Hässliche oder Sodomie. Diese Bilder sollen beunruhigen, sie laden das Auge eben gerade nicht zum Verweilen ein oder strahlen Ruhe aus; sie sollen, bei aller Gefahr, damit auch auf einen gewissen Gruseleffekt abzuzielen oder die Gezeigten bloßzustellen, eben gerade verstören und das Publikum zur Reflexion herausfordern. Insbesondere Bilder des ostentativen Ausstellens von Sexualität zeigen bei Seidl auch immer die Vereinsamung des Menschen, thematisieren Machtfragen, käufliche Liebe mit Menschen als Ware und die Feier des Orgiastischen. Bei aller möglichen Diskussion um Seidls zweifelhafte Inszenierungen vor allem von Frauenfiguren etwa, legt der Regisseur in seinen Filmen doch auch immer wieder den Machismo der ihnen begegnenden Männer offen. Das Beispiel MODELS zeigt auch, wie Seidl filmisch die Zurichtung von Frauen und deren Körpern im Wahn der Schönheitsideale kritisiert.
III. Das scheinbar Dokumentarische und die Sozialkritik
Obschon Seidl sich selbst nicht als Dokumentarfilmer sieht, haben seine doku-fiktionalen Filme doch einen erheblichen Anteil an dokumentarischen Elementen und zeugen von einer gewissen Nähe zum direct cinema bzw. cinéma vérité.42 Denkbar weit entfernt vom classical cinema und unter Verzicht auf die Handlung vorantreibende plot points, erinnern Seidls Filme an Doku-Dramen, die sich einer gängigen Klassifizierung verweigern, wie sie etwa Bill Nichols in seiner weithin bekannten Studie zum Dokumentarfilm mit der Unterscheidung sechs verschiedener Modi des Dokumentarischen (poetic, expository, observational, participatory, reflexive, performative)43 vorgenommen hat. In Seidls Filmen ist keiner dieser Modi in Reinform realisiert. Vielmehr pflegt der Regisseur alle zugleich in verschieden gewichteten Mischformen, wenngleich, das ist allen Seidl-Filmen zu eigen, eine die Bilder kommentierende Stimme aus dem Off nie zu Gehör kommt. Seine Form des Dokumentarfilms wird daher als »Doku-Fiktions-Hybride«,44 als »präzise inszenierte(r) Ultrarealismus«45 bezeichnet. Seidls Ansatz ist der einer durchaus eigenständigen Verbindung von Fakten und Fiktionen, firmierend unter dem Schlagwort »Faction«.46 Weder direct cinema noch cinéma vérité lassen sich als Termini auf Seidls Filmwerk anwenden. Vielmehr gehört der Regisseur Seidl »einer Generation von Filmemachern an, die den Dokumentarfilm vom Dogma der faktographischen Repräsentation der Wirklichkeit befreien. Das Dokumentarische wird jetzt um fiktionale Formen erweitert; ›inszenierte Wirklichkeit‹ ist der Terminus dafür.«47
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