Jetzt ist es raus. Sie ist ferienreif, wie wir alle. Wir brauchen eine geschichtliche Pause, ein Moratorium. Vom Mittelalter ans Mittelmeer – ein sehr altes Urlaubsprogramm.
»Du weißt genau, Birgit«, meldet sich Gerd, »dass wir nicht einfach so wegkönnen. Sie holen uns ein, bevor wir über die Alpen sind. Sarazenen, der Papst, allerlei Gesindel und Gesocks machen uns den Garaus, bevor wir die erste Meereswelle gesehen haben. Die Poren sind verstopft. Dieses ganze Europa ist blockiert. Reinhart hat recht: Erst müssen wir hier aufräumen, dann kommt die Zeit zum Reisen.«
»Machen wir es wie die Nomaden«, wehrt sich Birgit.
»Nomaden sind Nomaden. Wir sind nun mal keine Nomaden.«
Gerd hat wieder einmal eine seiner stumpfsinnigen Devisen platziert.
»Ich habe gehört«, fährt Birgit fort, »dass Nomaden eben kein bestimmtes Volk sind, sondern zusammengewürfelte Scharen von Leuten, wie zum Beispiel wir es wären. Es sind Flüchtlinge. Geschichtsdeserteurinnen.«
Eigentlich ist da ein Vagantenlied fällig, doch Reinhart sagt nur ganz trocken:
»Herumziehen ist das Elend auf Rädern. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sie drangsaliert werden, unbeschützt, der Willkür der Ritter ausgeliefert …«
Wir lachen. Reinhart errötet. Immerhin ist er ja verhaftet.
»Wenn wir viele sind, geht es«, beharrt Birgit.
»Eine zweite Völkerwanderung? Wir kommen nicht durch«, gebe ich zu bedenken.
»Wir müssen eben heimlich fort«, schlägt Birgit vor, »in kleinen Gruppen, als Pilgerinnen verkleidet. Oder wie du als Händler und Spielleute. Wir müssen sozusagen exfiltrieren.«
»Wie ein Hexengebräu«, unterstützt sie Hilda. »Wir sickern bis zum Mittelmeer durch.«
»Und dort?«, will Gerd wissen.
»Dort suchen wir uns eine Bucht und legen uns in den Sand«, versetzt seine Frau schnippisch.
»Das mit den Pilgern«, melde ich mich, »ist keine schlechte Idee. Pilgerei ist in. Natürlich nicht ganz gefahrlos. Aber wenn man sich etwas vorsieht und organisiert …«
Gerd platzt.
»Das ist purer Unsinn!«, ruft er aus. »Das hat keine Zukunft. Du wirst nur ausgenommen, hungerst, gibst all dein Geld aus, und schließlich musst du doch nach Hause zurück. Du kannst nicht ewig in St. Jakob bleiben.«
»Warum nehmen wir dort kein Schiff und fahren weiter nach …«, flüstert Hilda ganz leise, »… Amerika?«
»Ab in die Neue Welt, ins neue Jahrtausend, ins neue Leben«, ergänze ich.
»Die Firma wird ihre Freude haben«, murmelt Gerd.
»Die Firma ist nicht allmächtig«, trotzt Hilda.
»Aber sie ist überall«, erwidert Reinhart. »Ihr entkommt ihr nicht. Es geht nicht darum, dem Job zu entfliehen, sondern ihn abzuschaffen. Das geschieht am besten hier, wo ihr euch auskennt, wo ihr immerhin ein bisschen Macht habt, und nicht bei den Indianern.«
Er singt ein Lied, zum Trost. Es geht um Heimat, Kampf, Kinder, Friedhöfe, Eigensinn und Stolz. Er beschwört die seltenen Sommertage herauf, den Frühling. Herzenswärme gegen Winterkälte. Sentimental – aber wirksam.
»Gut«, seufzt Birgit, »zuerst probieren wir die Politik. Wenn sie scheitert, wandern wir aus.«
»Die Vernunft hat gesiegt«, brummt Gerd und hält mir das leere Cognacnäpfchen entgegen.
»Auf den Pappelberg!«, sagt Gerd, nicht allzu laut, und wir trinken aus.
Reinhart erzählt Nachrichten von fern und nah. Es rumort wieder bei den Liutizi. Otto III. will nach Italien. Hugo hat Probleme mit Karl von Lothringen. Eine Sektenarche ist beim Stapellauf in der Donau auseinandergeborsten. Wir essen Äpfel, knacken Nüsse, singen Lieder mit. Die Gesichter glänzen.
Nachdem alle gegangen sind, steige ich wie immer noch auf das Dach der Burg und schaue in die Gegend hinaus. Es hat aufgehört zu regnen. Eine abnehmende Mondsichel zeigt sich zwischen dahinziehenden Wolken. Ein Käuzchen ruft. Und dann sehe ich sie: die Feuer in den Wäldern, nur ein schwankendes Schimmern – die St. Martinsfeuer. Ich höre gedämpftes Singen, ferne Trommeln. Nun feiern sie wieder ihre keuschen Feste (sie wollen keine Kinder). Jetzt, wo sie das meiste vor meinem Zugriff gerettet haben. Im Wald und in der Nacht sind sie sicher. Der Mond ist für sie ein Zeichen des Schutzes – für uns eine Drohung. Aber was trennt uns? Was muss uns trennen? Nein, sie sind nicht dumm. Es könnte spannend werden … Doch es ist immer das Gleiche: rebellische Anwandlungen, Träume von großen Komplotten, Resignation, Alltag.
»Was träumst du?«, fragt Birgit, die sich an mich geschmiegt hat.
Ich weise mit einer Kopfbewegung zu den Lichtern hin.
»Ah, wenn wir nur dabei sein könnten«, flüstert sie.
»Ich hätte Angst.«
»Wovor denn?«
»Dich zu verlieren. Oder mich.«
»Dummkopf.«
Wir gehen hinunter und verkriechen uns unter Fellen und Daunendecken. Nochmals ruft das Käuzchen – vergeblich.
Zuerst sah es nur nach etwas Nebel aus, dann begann ein leichter Nieselregen, und nun ist er wieder da: der gemeine Landregen, pluvia ruralis communis. Ärger gab’s schon in Essingen, wo wir heute unsere Tour begannen: Das Haus des Schulzen war zusammengebrochen, und die ganze Hirse war nass geworden, dazu mit Stroh, Lehm und allerlei Dreck vermischt. Wie bricht ein Haus auf Bestellung zusammen? »Der Regen«, klagt der listige Schulze. »Das Dach war nicht mehr dicht, die Lehmwände haben nachgegeben.«. Sieben Scheffel Hirse sind futsch, etwa dreißig Schillinge dahin, das wären einige Taglöhne für den Anbau, der wie ein Damoklesschwert über unserem Ehefrieden hängt.
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