Auf einer Anhöhe knapp unter den Wolken hockt meine Burg. Im Wesentlichen ist es ein zu niedrig geratener Wohnturm (Steinbauten sind aufwendig), eine hohe Palisade und dahinter ein Anbau, der Ställe, Magazine, Unterkünfte enthält. Schon seit langem steht die Aufstockung des Turms auf dem Programm. Ein Wohnanbau auf der Rückseite ist seit einem Jahr wegen Geldmangels in halbfertigem Zustand. Überhaupt ist der Hügel zu klein, und mir schwebt seit langem ein Wasserschloss unten in einer Bachschleife vor, so wie Konrad eines hat. Es genügte, den Bach zu stauen … Aber woher Material, Geld, Zeit, Männer nehmen? Und warum überhaupt noch Burgen bauen in dieser unwirtlichen Gegend? Militärisch gesehen sind sie eh zu klein, um nützlich zu sein.
Unser müder Zug kriecht den Burgweg hinan. Ich habe Birgit durch das Schlafzimmerfensterchen spähen sehen. Sie winkt nicht einmal. Wahrscheinlich hat sie sich den ganzen Tag gelangweilt. Und gefroren.
Dolf öffnet das Tor, brummt etwas wie »n’ Abend, Chef!«, hinkt dann neben mein Pferd, hilft mir beim Absteigen und führt es in den Stall. Ich kann kaum gerade stehen, bin völlig durchnässt und steif. Urs, Manfred, Dorwald und die kleine Fafa kommen mir entgegengerannt. Sicher hat Birgit sie unnötigerweise in den Dreck hinausgeschickt, um ihre Effizienz als Mutter und Hausfrau zu beweisen. Nicht nur ich treibe Korn und Schweine auf, auch sie leistet ihren Beitrag – so interpretiere ich die Botschaft. Doch Fafa ist unwiderstehlich. Ich hebe den kleinen Fratz empor und drücke ihr einen bartumrahmten Kuss auf die rote Wange. Sie ist kaum zwei.
»Kaka«, sagt sie, was für Kandiszucker, Honigbrötchen, Küsse, Kaninchenfelle und alles Positive auf dieser Welt steht.
Mit Fafa auf dem Arm gehe ich zum Turm. Gerd kümmert sich um den Rest. Meine drei Söhne inspizieren unsere Beute und den Händler Reinhart.
Es duftet nach Suppe. Die Suppe ist ein sich täglich verwandelndes Wesen, das immer wieder aufgekocht und mit neuen Zutaten versehen wird. Es gibt sie seit Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten, immer im gleichen Topf. Sie ist somit unsterblich, an die patriarchale Vererbungslinie gekoppelt. Sie schmeckt immer gleich und doch nicht, hat ihre Launen, bewahrt aber ihren Grundcharakter. Ich habe festgestellt, dass jede Burg nach ihrer Suppe riecht. Ich kann meine Kollegen von den Nachbarburgen blind am Suppengeruch erkennen, der sich in ihren Kleidern und Haaren einnistet. Er ist das olfaktorische Familienwappen, das Geruchssiegel des ländlichen Kleinadels.
Wie diejenigen von Pawlows Hund wissen auch meine Speicheldrüsen, dass ich zuhause bin, und beginnen aktiv zu werden. Ich bin die Suppe.
Fafa insistiert auf Kaka, und ich finde in meiner Tasche noch ein Bröcklein Kandiszucker, das sie gierig in den Mund steckt. Sie strahlt mich zufrieden an. So einfach kann das sein. Wo bleibt mein Kaka?
Der Burgturm ist im Wesentlichen eine von Menschenhand erbaute Höhle. Da Glas – obwohl seit der Antike bekannt – von der Geschichtskontrollstelle noch nicht erlaubt wurde, sind die Fenster nur schmale Schlitze, mit geöltem Pergament notdürftig verschlossen. Selbst bei Tag sieht man praktisch nichts – was allerdings in dieser trüben Landschaft kein großer Schaden ist. Die Mauern sind innen alle rußgeschwärzt. Wie ein Blinder – aber auch mit der Sicherheit eines Blinden – gehe ich die Treppe hinauf und finde im Dämmerlicht des Feuers und einer Öllampe mein Weib, Birgit. Ich muss sagen, sie pflegt sich – nur sehe ich das jetzt nicht. Sie lässt sich nicht unterkriegen, obwohl ihre Augen schon Tränensäcke haben, vom Rauch, sagt sie.
»Wer ist der Mann?«, will sie zuerst wissen.
»Reinhart, ein Händler und Musikant. Er wird heute aufspielen. Gerd und Hilda kommen wahrscheinlich auch rauf. Wie geht’s?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Wie war’s?«, fragt sie.
»Am liebsten würd ich das nasse Zeug ausziehen, mich ins Bett werfen und losheulen. Die Kerls haben mich ganz schön geschafft.«
Sie hilft mir beim Ausziehen, streicht mir beiläufig über den Nacken.
»Haben wir genug für den Winter?«
»Es wird schon reichen. Wenn es in Kaldau, Vorderhag, Essingen, Hirschach und Felseneck einigermaßen klappt.«
Ich wuchte die Stiefel von meinen klammen Füßen und knalle sie in die Ecke. Birgit bringt mir trockene Socken, ein frisches Leinenhemd, einen Wollpullover. Sie strickt ganz tolle Pullover mit Tiermustern, natürlich gefärbt und aus selbsterzeugter Schafwolle. Auf meinem Lieblingspullover bekämpfen sich zwei Hirsche mit ineinander verkeilten Geweihen. Birgit hat dieses norwegische Motiv wohl von ihren weitläufigen wikingischen Verwandten übernommen. Ich kann mich darin aber nicht sehen lassen – obwohl eigentlich kein technologischer Vorgriff dahintersteckt. Das Muster ist zwar Ethno pur, aber die Dörfler stricken ganz einfach nicht.
»Ohne diesen Pullover wäre ich total verloren«, sage ich, irgendwie versöhnt.
Birgit streicht mir übers Haar.
»Und wie steht’s mit dem Anbau?«
Sie fragt mich immer nach dem halbfertigen Anbau, denn dort will sie anständige, trockene Zimmer einbauen. Wir beide haben schon Gelenkschmerzen von der ewig feuchten Burg. Der Anbau wird oben ganz aus Holz sein, an die Palisade angelehnt, mit einer Loggia und Aussicht übers Bachtobel. Militärisch nicht hundertprozentig zu verantworten. Aber wenn sie kommen, lassen wir uns sowieso nicht in der Burg erwischen, sondern fliehen wie alle anderen in die Wälder.
»Wenn alle Abgaben beieinander sind, geht’s mit dem Anbau weiter.«
»Das hör ich nun schon seit einem Jahr.«
»Ich krieg anständige Zimmerleute nur gegen Lohn. Und Geld nur, wenn ich etwas in der Stadt verkaufe. Die Preise sind wieder einmal miserabel – fünf Schillinge für ein Maß Gerste.«
»Die Bauern bauen ihre Häuser selbst. Auch mein Vater …«
»Aber nur ihre Häuser, nur auf ihre Art, mit diesen gestampften Lehmziegeln. Wir brauchen aber eine solide Holzkonstruktion nach Maß.«
»Wäre für dich doch kein Problem – bei deiner handwerklichen Begabung.«
»Du bist wohl verrückt? Wenn das auskommt, ist mein ganzes Ansehen, meine Ritterehre, dahin. Baron und Zimmermann – das gäbe ein Gelächter bis Targau.«
In Targau sitzt Lothar, mein Chef, mein unmittelbarer ‚Lehnsherr‘, wie es in den schönen Büchern über den sogenannten Feudalismus heißt. Abnehmer meiner besten geräucherten Schinken. Dafür darf ich mit ihm auf die Jagd – viel Ehr, wenig Fleisch. Ein paar Hasenfelle vielleicht für die Kinder. Zum Glück, aber das darf niemand erfahren, kenne ich ein paar Wildschweine rein privat, denen ich im November auf den Pelz rücken werde.
Ich sitze im ledernen Faltsessel vor dem Feuer und lasse mich trocknen. Ich versuche, mich zu entspannen und die Bilder eines frustrierenden Tages in meinem Kopf abklingen zu lassen. Birgit sieht in ihrem Leinengewand, mit Zöpfen und Bändern, ganz wie die nette, aufgeräumte Freifrau aus. Sie langweilt sich schrecklich. Und das, obwohl es noch kein Fernsehen gibt.
»Wir müssen Rupert hinauswerfen«, sagt sie. »Er erzählt den Kindern dummes Zeug. Macht ihnen Angst vor dem Weltuntergang.«
Wir haben – offiziell – noch einige Jahre bis zum Jahr Null. Rupert, der Pfaffe von Gardau, kommt jeden Nachmittag in die Burg, um Urs und Manfred zu unterrichten. Das gehört sich so. Aber der Kerl ist strohdumm und kann selber kaum lesen und schreiben. Birgit hilft nach, aber diskret, damit nichts durchsickert. Beide Knaben lesen und schreiben perfekt und können schon einiges Latein. Rupert verkehrt mit irgendwelchen Frömmlern aus Tuckstett, wo der Pfarrer sie deckt. Eine millenaristische Strömung – ganz grässlich selbstquälerisch.