Ich stieg also aufs Dach und setzte mich neben das Kind. Es tat mir sehr leid. Das halbe Gesicht war unter einer Maske versteckt und er trug Einweghandschuhe an beiden Händen.
„Ha...llo!“, flüsterte ich im Gruselton. Doch der Junge hörte mich nicht. Ich wurde lauter und lauter. Doch der Junge reagierte nicht.
Wie aus dem Nichts, rief er plötzlich ein heiseres: „Bu...uh“, welches mich so erschreckte, dass ich vom Dach fiel.
Zum Glück passierte mir nicht viel: Ich verlor mein drittes Auge, welches ich aber bald wiederfand und in die dafür vorgesehene Augenhöhle steckte, die Warzen im Gesicht rückte ich wieder zurecht und ein gebrochenes Spaghettibein ersetzte ich schnell durch ein neues. Meine dicke Knubbelnase war nach dem Unfall mindestens fünfmal so groß, jedenfalls fühlte sie sich so an, und mein Kopf war noch unförmiger geworden. In Sekundenschnelle wechselte mein Körper die Farben.
Und der Junge? Ihr werdet es nicht glauben. Durch meinen Aufprall verstummte sein Weinen und er sprang sofort vom Dach, um mir zu helfen. Das fand ich wirklich sehr rührend. Aber das Schlimmste war: Er fürchtete sich keine Sekunde vor mir! Es störte ihn überhaupt nicht, wie ich aussah. Nein, im Gegenteil: Er war froh, dass er mir helfen durfte!
Später wischten wir seine Tränen auf und gingen ins Haus. Er erzählte mir, dass er eigentlich eine zweite Gesichtshälfte hätte, aber dass gerade eine Viruserkrankung auf der Welt herrschen würde: In der Schule, zu Hause, beim Spielen – überall mussten sich alle Kinder jeden Tag eine Maske aufsetzen. Covid-19 oder auch Corona wurde dieser Virusteufel genannt.
Und warum der Junge weinte, brachte mich völlig aus der Fassung: Aufgrund der hohen Inzidenzzahl war es heute zu einem weiteren Shutdown gekommen und seine Schule war wieder geschlossen worden. Das war das zweite Mal in diesem Jahr. Er würde so gerne in die Schule gehen und seine Freunde treffen und lernen. Und nun gab es wieder Homeschooling und er musste alleine zu Hause sein, denn seine Eltern arbeiten als Ärzte in einem Krankenhaus, und Aufgaben bearbeiten, die seine Lehrer ihm über das Internet schicken würden.
Das Lernen war kein Problem für ihn, aber das Alleinsein machte ihn so traurig.
„Da kann ich dir gerne helfen“, sagte ich freudig, „du kommst zu mir und ich lerne mit dir, Gruselspeisen zu kochen, wir lesen zusammen Gruselwitze und …“ Ich hatte viele (gruselige) Ideen und zauberte ihm ein Lächeln auf sein Gesicht.
Und wisst ihr was?
Der Junge kommt seither jeden Tag zu mir und er kennt noch viel bessere Gruselwitze als ich!
Johanna Siller (geb. 2011): Schon mit fünf Jahren konnte sie schreiben und lesen. Bald darauf schrieb sie ihre ersten Texte. In der Freizeit liebt Johanna lesen, Geschichten schreiben, Geige und Flöte spielen, singen, reiten, Gokart fahren und sie kann sich für jede Sportart begeistern. Johanna träumt davon, eines Tages Autorin und Musicalsängerin zu werden.
*
Die Mörderkatze
Der Mond warf ein geisterhaftes Licht über die Straßen von Edinburgh und die Bäume warfen lange Schatten – wie Monster. Jamey lief es kalt den Rücken runter. In der Hand schwang er eine Tasche voller Süßigkeiten. Es war Halloween und Jamey war alleine unterwegs. Er besaß keine Freunde. Nein. Er war nicht sonderlich beliebt. Jetzt wollte er einfach nur nach Hause. Nachdem ihm diese Leute solche Angst eingejagt hatten. Er erinnerte sich noch, wie alle gelacht hatten, als er schreiend davonlief.
In diesem Moment wurde er aus den Gedanken gerissen. Da war ein Schrei gewesen – bei Halloween nicht außergewöhnlich, aber von einem stockdunklen Haus vielleicht schon. Daraufhin sah er einen Schatten, der stieß jemanden aus dem Haus auf den Balkon.
Jamey trat unwillkürlich hinter einen Busch, jetzt konnte er auch Stimmen hören, einer stotterte: „Was wo...wollen Sie von mi...mir?“
Eine andere Stimme antwortete: „Na was wohl, ich nehme Rache an dir. Ich weiß ganz genau, dass ich damals von deinem Vorfahren angezeigt wurde, ich weiß ganz genau, wer für mein Todesurteil verantwortlich war.“ Dann schrie wieder jemand und etwas stürzte vom Balkon.
Kurz darauf ging die Haustür auf und eine Gestalt kam heraus. Sie trug komische Kleider und ihr Gesicht war weiß, der Mund aber so rot wie Blut. Die Augen leuchteten grün. Die Gestalt packte das Etwas und zog es ins Haus. Jetzt schien das Mondlicht auf das Etwas.
Jamey erstarrte. Er stand unter Schock, sodass er noch nicht mal schreien konnte. Das war ein Körper. Ein lebloser Körper. Die Gestalt zog einen Dolch aus dem Toten und machte die Tür des Hauses zu. Dann sprang der Mörder durch die Luft und kam in der Gestalt einer getigerten Katze auf dem Boden auf. Die Katze rannte davon.
Oh man, war das unheimlich. Jamey rannte, so schnell er konnte, nach Hause. Seine Mutter redete immer wieder auf ihn ein und versuchte, ihn zu beruhigen. Nur ab und zu kamen Wortfetzen aus seinem Mund. Irgendwann gelang es seiner Mutter, ihn ins Bett zu bringen. Sie legte sich zu ihm und wartete, bis er eingeschlafen war.
Um 23 Uhr wachte Jamey auf und blickte aus dem Fenster. Gleichmäßig hörte er im Nachbarzimmer seine Eltern atmen. Garantiert hatte ihn jemand reingelegt. Ein sehr gelungener Streich. Vielleicht Versteckte Kamera. Er trat ans Fenster. Der Mond leuchtete am Himmel. Der Mond faszinierte Jamey. Wenn er ihn betrachtete, waren all seine Sorgen vergessen. Er blickte ihn an.
Dann sah er sich im Garten um. Das Rotkehlchennest schlummert mit seinen Bewohnern. Die Rosen am Gartenrand streckten sich in den Himmel empor. Die Glühwürmchen schwirrten umher, da schlüpfte etwas durch die Hecke, eine getigerte Katze setzte sich in das Gras. Ihre Blicke trafen sich und Jamey schauderte. Das war die Mörderkatze. Dann saß da auch mit einem Mal der Mann mit der altmodischen Kleidung, der leuchtenden weißen Haut, den grünen Augen und den blutroten Lippen. Er blickte Jamey direkt an und fuhr sich mit der Handkante über den Hals. Der wollte ihn, da er der einzige Zeuge war, sicherlich töten. Dieser Verrückte war hinter ihm her!
Jamey riss das Kreuz von der Wand über seinem Bett und hielt es vor das Fenster. Schlagartig verschwand die gruselige Gestalt. Der Junge stieß einen Schrei aus und rannte ins Schlafzimmer seiner Eltern. Diese sagten, er hätte nur einen Albtraum gehabt. Er ließ alle Rollos herunter und prüfte noch die Sicherheit der Haustür und ob die Terrassentür geschlossen war. Dann legte er sich wieder ins Bett und träumte seine Albtraumnacht durch.
Am nächsten Morgen wachte er auf und war sich sicher, dass er alles nur geträumt hatte, also bestimmt auch den Mord. Aber es hatte sich tatsächlich so wirklich angefühlt. Er hatte die Nachtluft gespürt, als der Mord geschah, und die kalten Fliesen auf dem Flur des Hauses. Er hatte das Kreuz in seiner Hand gehalten. Außerdem lag es nun auf seinem Schreibtisch genau da, wo er es abgelegt hatte. Er schluckte und packte seinen Ranzen.
Es war nun schon zehn Tage her, dass er den Mord erlebt hatte. Jamey war sich nun absolut sicher, dass er einen Albtraum gehabt hatte. Es war Mathe, der Lehrer hatte die ganze Tafel mit Zahlen und Regeln zugeschrieben. Jamey hatte seinen Kopf in die Hände gestützt und blickte aus dem Fenster. Ein paar Fünftklässler rannten jubelnd über den Schulhof. Ein paar Tauben flogen erschrocken davon.
Wie auf Befehl trat eine Katze aus dem Schatten einer Eiche hervor. Sie blickt Jamey eiskalt an. Getigerte Streifen schlängelten sich über ihren Rücken. Ihre Augen glühten grün. Die Schnauze war blutrot. Ihr Blick fixierte Jamey.
Nach der Mathestunde war Schulschluss. Jamey packte seinen Ranzen und verließ den Raum. An Bäumen und Laternenpfählen prangte ein Plakat mit einem Bild: Jimmy gesucht. Das Bild sah der getigerten Mörderkatze sehr ähnlich. Jamey bog in eine dunkle Seitengasse ein und blieb stehen – ihm gegenüber stand die gruselige Gestalt mit einem Dolch in der Hand. Die Gestalt