Literatur zum Neuen Terrorismus
Die Literatur zum Thema Neuer Terrorismus lässt sich inhaltlich in zwei Zeitabschnitte einteilen: vor dem 11. September 2001 und nach dem 11. September 2001. Die Literatur vor dem 11. September 2001 besteht hauptsächlich aus Artikeln eines noch beschränkten Autorenkreises, die das Aufkommen eines Neuen Terrorismus allgemein diskutieren (u.a. Laqueur 1996; Hoffman 1999; Simon/Benjamin 2000; Roy/Hoffman/Paz/Simon/Benjamin 2000; Crenshaw 2000; Hirschmann 2000), aber auch zu einzelnen Aspekten Stellung nehmen, wie „Religion“ (u.a. Ranstorp 2004; Hoffmann 1998–1999a), „Netwar“ und „Cyberwar“ (u.a. Hoffman 1998–1999b; Arquilla/Ronfeldt/Zanini 1999; Whine 1999) oder „Massenvernichtungswaffen“ (u.a. Hoffmann 2000).
Nach den Anschlägen des 11. September 2001 hat sich der Autorenkreis quantitativ und geographisch erweitert, der sich in Artikeln für eine Entwicklung hin zu einem Neuen Terrorismus ausspricht (u.a. Bremer 2001; Simon/Benjamin 2001–2002; Cronin 2003; Simon 2003; Wilkinson 2003; Whine 2006; Jenkins 2006; Neumann 2009b). Unerschöpflich erscheint die Literatur zu den einzelnen Aspekten, wie z.B. „Selbstmordterrorismus“ (u.a. Bloom 2005a; Atran 2006; Crenshaw 2007), „Massenvernichtungswaffen“ (u.a. Stern 2001; Gurr/Cole 2005; Jenkins 2008) und „Religion“ (u.a. Stern 2003; Frayman 2006; Fine 2008). Auffällig ist die Konzentration auf islamistischen Terrorismus, Al Qaeda und Osama bin Laden in den Texten über Neuen Terrorismus, ohne jedoch auch diese Teilaspekte empirisch zu untermauern (u.a. Bremer 2001; Howard 2004; Simon 2003; Wilkinson 2003; Sageman 2004; Mockaitis 2008; Neumann 2009a/2009b). Neben einzelnen Artikeln finden sich nach dem 11. September 2001 auch Kapitel in Monographien und Aufsatzsammlungen (u.a. Howard 2004; Kraushaar 2006) und sogar ganze Bücher, die sich ausschließlich mit dem Thema als Monographie (u.a. Mockaitis 2008; Neumann 2009a) oder in Form von Artikelsammlungen (u.a. Tan/Ramakrishna 2002) beschäftigen. Aber keine dieser Arbeiten nutzt eine ausführliche empirische Untersuchung, um die Argumente für oder gegen einen Neuen Terrorismus zu belegen. Dies wird höchstens teilweise durch empirische Untersuchungen zu einzelnen Aspekten (u.a. Spencer 2006; Mockaitis 2008) oder durch qualitative Fallbeispiele (u.a. Kometer 2004; Neumann 2009a) geleistet.
Gleichzeitig hat sich nach dem 11. September 2001 auch eine Metadiskussion aus kritischen Betrachtungen der genannten Artikel und der Frage entwickelt, ob und in wieweit das Forschungsparadigma existiert (u.a. Copeland 2001; Tucker 2001; Morgan 2004; Zimmermann 2004; Burnett/Whyte 2005; Spencer 2006; Crenshaw 2007; Field 2009; Kurtulus 2011).
Literatur zu empirischen Untersuchungen
Die einzige umfassende empirische Untersuchung zur Entwicklung des Terrorismus erschien im Jahr 2015: „Putting Terrorism in Context“ von Gary LaFree, Laura Dugan und Erin Miller.11 Diese werten in ihrem Buch die Daten der Global Terrorism Database (GTD) von 1970 bis 2012 aus, wobei die Herausstellung des 11. September 2001 als „Black Swan Event“ den argumentativen Ausgangspunkt bildet. Bei dem „Black Swan Event“ beziehen sich die Autoren auf ein Phänomen, das Nassim Nicholas Taleb in seinem Werk „The Black Swan“ beschreibt.12 Es handelt sich hierbei um ein Ereignis, dessen Eintreten außerhalb der Erwartungen liegt, das extreme Auswirkungen hat und nicht den Vorhersagen entspricht. Das Forschungsziel dieser Arbeit ist es, durch einen umfassenden Blick auf den gesamten Terrorismus die Annahmen über Terrorismus, die sich durch dieses „Black Swan Event“ ergeben haben, genauer zu beleuchten. Hierbei wird jedoch der Fragestellung nach der generellen Existenz eines Neuen Terrorismus nicht nachgegangen. Das Konzept des Neuen Terrorismus und der dazugehörige wissenschaftliche, mediale und politische Diskurs werden nicht angesprochen. Zwar werden für einige Eigenschaften des Terrorismus, die auch für die vorliegende Untersuchung zum Neuen Terrorismus relevant sind, zeitliche Entwicklungen dargestellt, es findet jedoch kein Vergleich der beiden Zeiträume in der empirischen Untersuchung statt. Aber vor allem der Zusammenhang des Verhaltens terroristischer Organisationen und ihrer Ideologie wird in die Untersuchung nicht miteinbezogen. Dennoch kann die Untersuchung von Gary LaFree, Laura Dugan und Erin Miller aktuell als eine der umfassendsten deskriptiven Datenauswertungen zum Thema Terrorismus betrachtet werden. Aus diesem Grund und weil für die vorliegende Dissertation dieselbe Datenbank als Grundlage der Untersuchung verwendet wurde, soll das Werk an dieser Stelle Erwähnung finden.
1.4 Begriffsverständnis und theoretischer Ansatz
Rational Choice
Die terroristische Organisation wird in der vorliegenden Arbeit als gesamte Organisation, bzw. kollektiver Akteur betrachtet. Ein nicht-psychologischer, instrumenteller Ansatz, wie das Modell des rationalen Handelns, bietet sich hierbei an, um Entscheidungen, Verhalten und Verhaltensänderungen auf dieser Makroebene der terroristischen Organisation zu erklären. Deshalb wird die terroristische Organisation im Folgenden als rational handelnde Organisation verstanden. Sie trifft unter anderem die Auswahl der jeweiligen Strategien zur Erreichung ihrer Ziele unter der Annahme der kollektiven Rationalität und reagiert auf Veränderungen in ihrer Umwelt.13
Die Rational Choice Theorie gehört zu den strategischen Theorien und ist neben den organisationalen und psychologischen Theorien ein mögliches Erklärungsmodell zur Entscheidungsfindung und dem Verhalten terroristischer Organisationen. Im Gegensatz zur Rational Choice Theorie sieht die organisationale Theorie das Verhalten und die Entscheidungsfindung terroristischer Organisationen nicht als Reaktion auf äußere Einflüsse, sondern als Konsequenz interner organisationaler Prozesse. Nicht die Umsetzung der politischen oder ideologischen Vorstellungen steht im Mittelpunkt, sondern das Überleben der Organisation als solche. Dieses Erklärungsmodell ist für die vorliegende Untersuchung jedoch ungeeignet, da in seiner Logik Verhalten und Entscheidungsfindungen der terroristischen Organisation auf nicht beobachtbaren Prozessen basieren und somit empirisch schwer oder gar nicht überprüfbar sind.14 Die psychologische Theorie erklärt Verhalten und Entscheidungsfindung terroristischer Organisationen aufgrund individueller Präferenzen, Glaubenssysteme und psychologischer Dispositionen der Mitglieder. Als Erklärungsmuster werden kognitive und affektive Verzerrungen in Form von Persönlichkeitsstörungen der Mitglieder, oder Aggressionsauslöser, wie Frustration oder Narzissmus herangezogen. Ähnlich wie bei der organisationalen Theorie, ist die schwierige empirische Überprüfbarkeit problematisch.15 Des Weiteren kann ein psychologisches Erklärungsmodell aufgrund seiner Verallgemeinerungen generell der Komplexität des Phänomens Terrorismus nicht gerecht wird.16
Die Rational Choice Theorie als Erklärungsmodell zum Verhalten und zur Entscheidungsfindung terroristischer Organisationen ist als einziges Modell für die Untersuchung geeignet, da sie im Gegensatz zur organisationalen und zur psychologischen Theorie von einem Standard-Verhalten der terroristischen Organisationen ausgeht, dessen Abweichungen, aber auch dauerhafte Veränderungen, gemessen werden können.17
Wave-Theorie
Der Neue Terrorismus wird als eine Phase in der Entwicklung des Terrorismus verstanden, wie sie von David C. Rapoport in seiner Wave-Theorie dargestellt wird.18 Bestimmte Eigenschaften terroristischer Organisationen sollten häufiger (zeitlich und räumlich) in dem Untersuchungszeitraum des Neuen Terrorismus auftreten, als dies zuvor der Fall war. Die Grundlage für die Untersuchung bildet das strukturelle Verständnis einer Phase:
„It is a cycle of activity in a given time of period – a cycle characterized by expansion and contraction phases. A crucial feature is its international character; similar