Inzwischen haben die Produzenten von Gebrauchsgegenständen für das gemeine Volk eingesehen, daß es eine literarische Schwierigkeitsskala gibt, die von Leicht (Krimi) über Mittel (Gedicht) bis hin zu Unmöglich (Gebrauchsanleitung) reicht. Auf der ganzen Welt existiert keine einzige verständliche Gebrauchsanleitung. Ich habe einmal eine Kamera gekauft, und nachdem ich die Gebrauchsanleitung gelesen hatte (aber bis heute nicht verstanden habe), habe ich nach diesem Vorbild eine Gebrauchsanleitung für einen Band Lyrik geschrieben. Ich veröffentlichte damals unter dem Pseudonym Klaus Millau kleine Satiren auf der Letzten Seite der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung, und das sah so aus:
» Waschzettel für Anfänger
Wie sie ihre Bücher preisen sollen – von Klaus Millau
Herzlichen Glückwunsch zum Erwerb des Lyrikbandes › Wetterleuchten um Brigitte‹! Sie haben das beste und fortschrittlichste Buch erworben, das nach dem heutigen Stande des Dichtens denkbar ist Es zeichnet sich durch eine Fülle bisher unbekannter Bilder und Formulierungen aus. Darüber hinaus bietet es alles, was ein gutes Buch haben muß – einen Anfang, ein Ende, gedruckte Buchstaben. selbstverständlich mit Randausgleich, je einen Buchdeckel vorn und hinten, einen Rücken, eine ISBN-Buchnummer und einen Schutzumschlag.
Die Bedienung ist einfach. Sie benötigen weder Batterie noch Netzanschluß. Es genügt, daß Sie das Buch aufschlagen. Beginnen Sie mit der Lektüre vorne, nicht hinten. Lesen Sie in entspannter Position. Der Abstand zwischen dem Text und Ihren Augen sollte etwa dreißig Zentimeter betragen (benutzen Sie im Zweifel einen Zollstock). Als erstes lesen Sie auf Seite eins in der obersten Zeile den Buchstaben ganz links außen, dann den rechts daneben befindlichen Buchstaben, und so fort. Wenn Sie am äußersten rechten Ende der Zeile angekommen sind, blicken Sie wieder nach links und wiederholen den Vorgang eine Zeile tiefer. Am Ende der Seite angelangt, gehen sie zur nächsten Seite über. Sie erkennen sie an der nächsthöheren Seitenzahl. Zur leichteren Bedienung sind die Seiten fortlaufend in das Buch eingebunden.
Überrall, wo zwischen einer Folge von Buchstaben ein Zwischenraum zu sehen ist, zeigt dies an, daß ein Wort endet und ein neues beginnt. Jedes Wort hat eine Bedeutung, mindestens aber eine Aufgabe. Es erhöht den Lesegenuß, sich diesen Wortsinn beim Lesen zu verdeutlichen.
Legen Sie im Zweifel eine Pause ein und denken Sie darüber nach. Es schadet nicht, wenn das Buch währenddessen aufgeschlagen bleibt; Sie können es aber auch zuklappen, sollten dann freilich ein Lesezeichen benutzen (notfalls eignet sich dazu der Zeigefinger – dagegen ist von der Herstellung sogenannter Eselsohren abzuraten).
Ob Sie laut oder leise lesen wollen, hängt von Ihren Wohnverhältnissen ab. Bitte nehmen Sie auf Ihre Nachbarn Rücksicht, die vielleicht gerade ihrer Stereoanlage lauschen wollen. Leises Lesen ist weder schädlich noch beeinträchtigt es den Lesegenuß.
Selbstverständlich ist ›Wetterleuchten um Brigitte‹ pflegeleicht. Inspektionen und Kundendienste sind im allgemeinen überflüssig, auch nach langjährigem Gebrauch. Schütteln Sie das Buch gelegentlich oder klopfen Sie den Staub heraus. Zur Unterbringung eignet sich jedes handelsübliche Bord.
Sie können das Buch liegend aufbewahren. Aus Platzgründen empfiehlt sich jedoch eine senkrechte Aufstellung, dies insbesondere dann, wenn Sie die Anschaffung eines Zweitbuches erwägen oder vielleicht schon durchgeführt haben.
Und nun – viel Vergnügen mit ›Wetterleuchten um Brigitten‹. Wenn Sie die vorgenannten Punkte sorgfältig beachten, werden Sie damit fast ebensoviel Freude haben wie an Ihrem Fernsehgerät.«
Die Sache hatte ein Nachspiel. Einige Wochen später rief mich ein empörter Vater an, der meine Telefonnummer bei der SZ-Redaktion erfragt hatte. Seine Tochter habe im städtischen Gymnasium eine Gedichtinterpretation exakt nach meinem Vorbild abgeliefert und die Note »Sechs« (für jüngere Leser: »Ungenügend«) dafür kassiert. Das könne er nicht hinnehmen. Was in der Zeitung stehe, stimme schließlich, und ich solle ein Gutachten schreiben; er wolle die Schule verklagen. Ich mühte mich, ihn davon abzubringen, murmelte etwas von dichterischer Freiheit, und als er nicht lockerließ, tat ich das, was wir Juristen einen »dilatorischen Formelkompromiß« 8 nennen. Ich versprach, den Fall zu prüfen, was einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Die nächsten Wochen machte ich einen Bogen um das Telefon und irgendwann hörten seine Anrufe – kenntlich daran, daß er es stets etwa dreißig Mal läuten ließ – auf.
Das Pseudonym Klaus Millau hatte ich übrigens nach folgender Methode ausgesucht: Ich hatte eine Weltkarte auf dem Tisch ausgebreitet und mit geschlossenen Augen eine Nadel irgendwo hineingestochen. Sie steckte dann in der Gemeinde Millau im französischen Département Aveyron in der Region Midi-Pyrénées. Also wählte ich den Namen Millau. Ich hatte Glück. Es hätte ja auch Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch in Wales, Ploiesti in Rumänien oder El-Iskandariya in Ägypten sein können. Mein Plan war, den gewählten Ort zu besuchen, sobald ich mit meinen Satiren genügend Geld für die Reise verdient haben würde. Dieser Plan ging nicht auf. Die Honorare von der Zeitung waren buchstäblich zu verstehen – als Ehrensold.
Zurück zu den Gebrauchsanweisungen. Kaufen Sie einen Videorecorder oder ein Smartphone oder ein sonstiges Gerät und Sie werden mir Recht geben. Die Hersteller technischer Geräte haben deshalb inzwischen alle textlichen Anstrengungen aufgegeben und bieten dem Verbraucher statt dessen regelmäßig eine Folge von Bildzeichnungen an. Das soll den Vorteil haben, daß auch der Eskimo, sollte er Lust auf einen Akuschrauber oder einen selbstfahrenden Staubsauger haben, wissen soll, was er zu tun hat, wenn er dieser Leidenschaft frönen wollte. Aber das ist ein Irrtum. Ein Bild sagte nicht mehr, sondern weniger als tausend Worte. Manche Dinge kann man überhaupt nicht bildlich ausdrücken, etwa den Unterschied zwischen Vorder- und Rückseite beim Billy-Regal.
Man muß daher zu den verbalen Anleitungen zurückkehre, und das kann in der globalisierten Welt peinlich werden. Als Student besuchte ich einmal Ungarns Hauptstadt Budapest. In einem Restaurant wollte ich einem menschlichen Bedürfnis folgen und stand vor zwei Türen. Auf der einen stand »Nö«, auf der anderen »Férfi«. Soweit war alles klar. Ich musste nun nur noch herausfinden, ob ich ein »Nö« oder ein »Férfi« war. Eine weibliche Bedienung kam den Gang entlang und ich versuchte ihr bildlich meine Frage klarzumachen. Es war peinlich und hoffnungslos. Schließlich öffnete ich eine Tür aufs Geratewohl. Es war die falsche (»Nö«), ungarische Damen sind sehr temperamentvoll, ich erspare Ihnen den Rest. Ohne eine gute Geberauchsanweisung, in kantischer Terminologie »Theorie«, wird das mit dem Krimischreiben also nichts werden. Dieses Buch liefert sie.
II. Der Stoff des Krimis – das Verbrechen
Der Krimi hat es seit jeher so gut