Der moderne Krimi etablierte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert. In Deutschland gilt »Das Fräulein von Scuderi«, eine Novelle von E. T. A. Hoffmann (1776-1822) aus dem Jahre 1819 als erster Krimi. Ich muß Sie an dieser Stelle fragen: Wissen Sie, was eine Novelle ist? Falls ja, überschlagen Sie bitte das Folgende. Falls Nein, folgendes: (Für alle Plagiatsjäger: Ich zitiere hier aus einer Quelle, die ich hier nicht nenne, ohne Gänsefüßchen, einfach so. Falls Sie es aber wirklich wissen wollen, finden Sie die Fundstelle am Ende des Buches. 4»Die Novelle ist eine eigene Kunstform die Ihren Namen aus dem Juristischen entlehnt hat. Bekanntlich ist das justinianische Gesetzgebungswerk vom Jahre 534 in der Folgezeit durch zahlreiche Einzelgesetze fortgeführt worden, und weil diese den Codex nicht nur ergänzten, sondern wichtige Teile ganz neu regelten, nannte man sie ›leges novellae‹. Das Merkmal des ›Neuen‹ ist es denn auch, was die Novelle als Form der erzählenden Dichtung (sie entstand im späten Mittelalter) mit diesen Gesetzesnovellen gemein hat, freilich in einem analogen Sinne: Die verkürzende und verdichtende Darstellungsweise läßt den für die Novelle charakteristischen Wendepunkt als etwas Unerwartetes, kausal nicht Ableitbares, ja als etwas Unerhörtes erscheinen. Goethe hat dafür eine sehr treffende Formulierung gefunden (in den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ von 1794/95): ›Was gibt einer Begebenheit den Reiz? Nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß, den diese hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsere Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt ...‹« (Ende des nicht zitierten Zitats).
Das Neue, die »Novität«, stürzt also wie ein Falke aus heiterem Himmel in das Behagen des arglosen Lesers, und so haben die Literaten eine Falkentheorie entwickelt, die auch E. T. A. Hoffmann in seiner Novelle angewandt hat. Das Fräulein von Scuderi (Alter 73) dichtet am Hofe König Ludwigs XIV. In Paris treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Alle Opfer sind Männer, die mit einem Schmuckgeschenk auf dem Weg zu ihrer Geliebten erstochen werden, wobei stets der Schmuck gestohlen wird. Der König bespricht die Mordserie mit Fräulein von Scuderi. Sie, geistreich wie sie ist, produziert ein Bonmot »Un amant qui craint les voleurs, n’est point digne d’amour« (»Ein Liebhaber, der Diebe fürchtet, ist der Liebe nicht würdig«). Majestät sind beruhigt und verfügen die Einstellung der Ermittlungen. Daraufhin bebedankt sich der Serienmörder, indem er dem Fräulein anonym durch einen jungen Mann eines der geraubten Schmuckstücke zukommen lässt. Das Fräulein kriegt heraus, daß der Schmuck von René Cardillac, dem angesehensten Goldschmied der Stadt, stammt. Sie ruft ihn, er gibt die Taten zu und erklärt dem 73-jährigen Fräulein seine Liebe (bitte keine Zwischenrufe an dieser Stelle – wir sind mitten in der großen Literatur), nur für sie habe er geschmuckfertigt und gemordet. Nachdem das Fräulein mehrere Monate vergeblich an einem neuen passenden Bonmot gearbeitet hat, erscheint der Jüngling erneut bei ihr und fordert sie auf, den Schmuck zu Cardillac zurückzubringen, widrigenfalls er sich in ihrem Hause umbringen werde (fragen Sie nicht nach dem Grund für das letztere – es gibt keinen). Das Fräulein folgt der Aufforderung und erlebt bei ihrer Ankunft in Cardillacs Haus, daß dessen Leichnam gerade weggebracht und der junger Mann, ein Geselle von Cardillac namens Olivier Brusson, als dessen Mörder verhaftet wird. Soweit die Story. Und nun stürzen gleich mehrere Falken aus dem Himmel auf den arglosen Leser. Olivier und Cardillacs Tochter Madelon sind ein Liebespaar. Olivier ist der Sohn der ehemaligen Pflegetochter des Fräuleins. Er sagt aus, Cardillac habe seriengemordet, weil sich nie wirklich von seinen Kunstwerken habe trennen können. Olivier habe der Polizei aus Liebe zu Madelon nichts verraten. Cardillac sei bei seinem letzten Mordanschlag von einem Offizier in Notwehr getötet worden. Um nicht in Verdacht zu geraten, sei dieser geflohen. An seiner Statt sei Olivier als mutmaßlicher Mörder verdächtig worden. Wenn der Tatort im TV so weit gediehen ist und der Blick auf die Uhr Ihnen zeigt, daß es noch fünf Minuten bis zum Schluß dauert, wissen Sie, daß jetzt ein Geständnis fällig ist. Der Offizier, der Graf von Miossens, legt es bei der Scuderi ab, diese meldet es dem König, und der sorgt für die Freilassung von Olivier, der seine Madelon heiraten darf. Sicherheitshalber sorgt der König noch dafür, daß die beiden Frankreich verlassen und nach Genf ziehen – man kann ja nie wissen ...
In den USA begründete Edgar Allan Poe mit einer Kurzgeschichte namens »The Murders in the Rue Morgue« (1841) das Genre. Darin schuf er zwei wesentliche Elemente des modernen Krimis, den genialen Detektiv und die Technik des verschlossenen Raums. Der Detektiv heißt C. Auguste Dupin und der umschlossene Raum ist eine verschlossene Wohnung im vierten Stock eines ansonsten leerstehenden Hauses in Paris. Zwei Frauen werden dort bestialisch ermordet. Der einen wird mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitten. Die andere wird erwürgt. Türen und Fenster sind verschlossen. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Wie ist der Täter in die Wohnung und wieder heraus gekommen? Dupin löst das Rätsel. Der Täter ist ein Orang Utan, der seinem Halter, einem Seemann, entflohen ist. Der Affe hatte beim Rasieren zugeschaut und das Rasiermesser mitgenommen. Er war an der Außenfassade des Hauses hochgeklettert. Das alles erkannte Dupin mit Hilfe seines analytischen Detektivverstandes. »Morgue« bedeutet übrigens im Englischen wie Französischen Leichenschauhaus. Poe machte seine Sache gründlich.
In England schuf der Arzt und Schriftsteller Arthur Conan Doyle die Figur des »Sherlock Holmes« (1887). Dieser lebte in London in der Baker Street 221b, und wenn Sie einmal dorthin kommen, sollten Sie sein Wohnhaus aufsuchen, wo noch viele Gegenstände an ihn erinnern, so seine Dunhill-Pfeife, seine Deerstalker-Mütze und sein Inverness-Mantel. Holmes war »Consulting detective«, also Privatdetektiv, der im Unterschied zum »police detective« für Klienten tätig wurde. Sein Mitbewohner und Gesprächspartner war der Arzt Dr. John H. Watson, der als Stichwortgeber und Gesprächspartner das Vorbild für unzählige derartige Partner in modernen Krimis abgeben sollte (etwa im Derrick: »Harry, hol schon mal den Wagen.«) Seinen ersten Krimi veröffentlichte Doyle im Alter von 27 Jahren unter dem Titel »A Study in Scarlet«. In ihr lernen Holmes und Watson sich kennen und beziehen die Wohnung in der Baker Street. Ein gewisser Tobias Gregson gibt ihnen den ersten Auftrag. In einem verlassenen Haus wurde ein Ermordeter namens Drebber gefunden. An der Wand steht mit Blut geschrieben das deutsche Wort »Rache«. Holmes soll den Fall aufklären. Er findet einen Ehering bei ihm. Um den Mörder anzulocken, gibt Holmes eine Zeitungsanzeige auf, wonach ein Ehering gefunden worden und bei Dr. Watson abzuholen sei. Tatsächlich kommt eine alte Frau, Mrs. Sawyer, um den Ring abzuholen, den ihre Tochter angeblich verloren hat. Holmes folgt ihr, indem er auf ihre Droschke springt, aber am Ziel ist die Droschke leer. Es kommt dann die Polizei, und es gibt noch einen zweiten Toten. Die Polizei verhaftet wie üblich den Falschen, ehe Holmes dem Richtigen Handschellen anlegt. Es war – nein, nicht der Gärtner – es war der Kutscher.
In der Folgezeit waren zahlreiche Autoren erfolgreiche Krimischreiber, Edgar Wallace mit dem Hexer, Agatha Christie mit Hercule Poirot und Miss Marple, Georges Simenon mit Kommissar Maigret und viele andere. Heute ist ihre Zahl unübersehbar und wächst stetig an. Während das Gedichteschreiben – von gelegentlich »mit letzter Tinte« verfassten Ausnahmen abgesehen – stagniert, rollt eine wahre Krimiwelle über uns hinweg. Sie hat noch längst nicht ihren Scheitelpunkt erreicht. Die Wellenforscher sprechen von einer drohenden Monsterwelle, die man auch als Krimi-Kaventsmann 5 bezeichnen kann. Erbarmen ist hier so wenig zu erwarten wie auf dem Atlantik.
Der Krimi, ob wahr oder erfunden, erfüllt also eine wichtige literarische Funktion. Er zeigt uns, wozu wir fähig wären, wenn wir nicht so gehemmt wären. »Ich habe noch niemals von einem Verbrechen gehört, von dem ich mir nicht hätte vorstellen können, dass auch ich es hätte begehen können«, soll Goethe einmal zu Eckermann gesagt haben. Ich bin nicht sicher, daß er das wirklich gesagt hat, aber Goethe ist jemand, dem man das zutraut, und das ist praktisch dasselbe. Seine Aussage trifft sicher auch auf Sie und mich zu. Ich könnte Ihnen etliche Personen nennen, die ich sehr gerne mit einem Einschussloch in der Stirn sehen würde. Ein gut geplanter Mord ist ein »Genuß«, wie eine bekannte Brauerei zum Schluß eines jeden Tatorts im TV der wohlig erschauernden Community so treffend mitteilt. Die Produktion von Krimis in Form von Büchern, Fernsehserien und Filmen boomt daher, und sie wird immer mehr boomen bzw. Kaventsmänner produzieren.
Bei dieser Flut gibt es einen wichtigen Unterschied zur Liebesgeschichte und zu allen anderen inzwischen entstandenen