„Aller? — Aber meine Gnädigste, es gibt Gott sei Lob und Dank noch viel kluge und geistvolle Menschen, welche nicht jenseits von Gut und Böse stehen, sondern eine recht scharfe Grenze dazwischen ziehen!“
Fräulein von Heym zuckte beinahe mitleidig die Achseln. „Ich weiss nicht, zu welcher philosophischen Richtung Sie schwören, Graf; aber ich sage es Ihnen selbst auf die Gefahr hin, zu beleidigen: jeder Mensch, welcher nicht in Nietzsche den Apostel vollster Wahrheit und den Träger höchster Vollkommenheitsideale anerkennt — der versteht ihn nicht!“ —
Bonaventura lachte nervös auf. „Das ist hart, gnädiges Fräulein! Ich habe mich nie viel um philosophische Rechtsstreite bekümmert, und alles, was ich von dem Mann weiss, ist die an und für sich ganz bequeme Moral: dass der Mensch sich ausleben soll! — Darin gibt jeder junge Mann ihm nur zu gern recht; von jungen Damen war es mir bislang neu. Aber ich machte die Beobachtung, dass die Anhänger dieser ‚schrankenlosen Richtung‘ — so lang als göttlich selbstherrliche, blonde oder schwarze — aber stets ausschweifende Bestien —“
„Haha! Keine Varianten, Völkern!“ lachte der Graf brüsk auf. ‚„Einsam schweifende Bestie‘ heisst das viel zitierte Wort —“
„Welches man im allgemeinen genau und wörtlich wiederzugeben pflegt!“ nickte Fräulein von Heym bissig, — lenkte aber schnell und lächelnd ein: „Ihre Variante war aber für Nietzsches Gegner entschieden ein bon mot, Herr von Völkern! Bitte, reden Sie weiter!“
Bonaventura rührte Sturm in seiner Bouillontasse. „Dass sie so lange als blonde Bestien umherschweiften und das Leben nach jeder Richtung hin genossen, bis die malträtierte Natur einen dicken Punkt dahinter setzte und die geistig, körperlich und finanziell ruinierten Menschen in das Kranken-, Irren- oder Armenhaus steckte; — dann machten sie doch wohl ein grosses Fragezeichen hinter die allein seligmachende Theorie des grossen Weltweisen!“
Fräulein Ellinor lächelte ironisch.
„Sie sprechen, wie alle Neulinge auf diesem Gebiete, Baron! — Als Kolumbus den Wasserweg nach Amerika entdeckte, sagte er der staunenden Menge: dort drüben liegt ein Land der Freiheit, des Reichtums, des Genusses! Wer es erreicht, hat eine neue Welt gefunden. Aber er gab keinem aus der blind losstürmenden Menge den Rat, unterwegs zu ertrinken! Und die Lehre aus diesem Beispiel? — Menschen, welche noch zu unreif sind, die hohe, göttliche Moral aus Nietzsches vielzitiertem Wort zu erfassen, die machen es ebenso, wie die, welche unterwegs ertrinken — sie stürmen sinnlos, wüst und unmässig einem Ziele zu, es mit dem Knüppel zu erobern, während es doch nur dem klug abwägenden, überlegenden und geistvollen Menschen vorbehalten ist, als ‚einsam schweifende Bestie‘ mühe- und gefahrlos den Weg zu den höchsten Höhen, zu einer wahrhaft neuen Welt zu erreichen.“
Graf Hochheim blickte die Sprecherin ganz betroffen an, und auch Bonaventura nagte einen Augenblick an der Lippe, wie einer, der sich geschlagen fühlt und es doch nicht zugeben will; nur Gräfin Malva blickte mit den grossen Blauaugen fest und klar auf ihr Gegenüber und schüttelte den Kopf.
„Ihr Gleichnis scheint auf den ersten Blick sehr überzeugend, Fräulein von Heym — aber philosophisch vertiefen dürfen Sie es nicht!“
Bonaventura hob jäh den Kopf: „Ah! Sprechen Sie, Komtesse!“
„Ja, sprechen Sie, Ihre Ausführung dürfte amüsant werden!“ spöttelte Fräulein Ellinor, wies durch eine kurze Kopfbewegung den Diener mit dem servierten Lachs zurück und lehnte sich erwartungsvoll vor, dass alle Edelsteine wie ein mörderisches Kreuzfeuer aufsprühten.
Zarte Röte stieg in Malvas Wangen.
„Wenn die neue Welt, welche Nietzsche durch seine Lehren verheisst, nur einem ‚Amerika‘ gleicht, so ist es doppelt schade, wenn auch nur eine Menschenseele dadurch beunruhigt wird! Denn diese neue Welt hat in nichts eine Besserung gebracht, sondern nur das Elend, Mord, Tod und Kampf der alten auf sie hinübergetragen! — Und so würde es mit den Nietzscheschen Idealen auch gehen. Es sind zu wenig derart geistvolle, ausgereifte Menschen auf der Erde, welche klug genug sind, den vielleicht wirklich guten Kern aus der bitteren Schale zu lösen und durch seine Erkenntnis glücklich zu werden. — Die grosse Masse wird stets den Amerikastürmern gleichen und, auf gefährliche Wogen gelockt, darin zugrunde und untergehen! Ein Weltverbesserer aber, welcher nur einen einzigen Bruchteil der Menschheit beglückt, die Gesamtheit aber auf schiefe, gefahrdrohende Bahn lockt, ist in meinen Augen kein Apostel, welchem man zujubeln muss!“
„Bravo, Komtesse, bravo!“ —
„Haben Sie Nietzsche gelesen?“ lächelte Ellinor ironisch.
„Nein!“ bekannte Malva ehrlich, „das wäre Zeitverschwendung. Ich blicke auf die Früchte, welche ein Baum trägt, und erkenne daran, welcher Art er ist!“
„Sehr recht!“
„Und die Früchte Nietzschescher Philosophie faulen im Irrenhaus oder Zuchthaus, wenn die überspannten Liebhaber, welche nicht sofort erhört werden, mit dem ‚Revolver oder Dolch‘ zum Weibe gehen!“
Wieder zuckt ein beinahe mitleidiges Lächeln um Fräulein von Heyms Lippen.
„Sie schlagen sich mit eignen Waffen. Nietzsche rät diesen Männern, die Peitsche zu nehmen — die erzieht, aber mordet nicht. — Wenn die gütige Natur den Menschen das Wasser zum Trinken und Erquicken gibt — ein Fanatiker aber stösst seinen Nächsten hinein, dass er ertrinkt — wer trägt die Schuld daran? — Die Natur, welche das Wasser geschaffen —“
„Gott der Herr hat es geschaffen!“
„Wenn Sie sich die Natur als Gottheit vorstellen, Komtesse, ändert dies nichts an der Tatsache! — Also die Natur, welche das Wasser geschaffen, oder der, welcher diese Gabe missbraucht? — Es gibt keine Lehre auf der Welt, welche sich nicht Verzerrungen und Ausgeburten gefallen lassen muss. Sie sind gewiss überzeugte Christin, Komtesse, und werfen den Glauben nicht über Bord, weil er viele Tausende von Menschen auf die Folter, den Scheiterhaufen und in die Kerker geliefert hat? — Sehen Sie die Zersplitterung der Sekten, den ewigen Kampf zwischen den einzelnen Parteien an und sagen Sie noch, die neue Welt, welche dieser Glauben geschaffen, ist vollkommen?“ —
Malva hob mit blitzendem Blick den Kopf.
„Das Reich ewigen Friedens, welches uns unser teurer Glauben verheisst, Fräulein von Heym, ist nicht von dieser Welt! Jeder Christ weiss, dass wir im heissesten und bittersten Kampf stehen müssen, so lange wir durch diese Welt einer besseren entgegenpilgern — und darum wissen wir Christen es auch am besten, dass keine Wissenschaft, keine Theorie, welche nur der Geist erklügelt und welche mit Herz und Liebe nichts gemein hat, jemals auf dieser Welt eine volle Genüge schaffen kann! Was dem Verächter Nietzsche am meisten fehlt, das ist die Liebe — und nur sie allein ist die göttliche Kraft, welche sich nicht feige ‚jenseits‘ von Gut und Böse hält, sondern das Böse in Gutes wandeln kann!“
Bonaventuras Blick traf aufleuchtend die Sprecherin: „Sie reden mir aus der Seele, Komtesse!“ sagte er leise, hob sein Glas und leerte es schweigend bis zum Grund.
Fräulein von Heym hatte seinen Blick und den Ausdruck seiner Worte beobachtet.
Der sarkastische Zug um ihre Lippen verschwand, wie von kluger, vorsichtiger Hand weggewischt — sie seufzte mit gesenkten Wimpern leise auf und flüsterte: „Ja die Liebe! Noch lernte ich nicht an ihre göttliche, alles zwingende Macht glauben — geschieht es einmal im Leben, macht sie vielleicht auch aus mir Saulus einen gläubigen Paulus!“
Graf Hochheim atmete auf, dem heiklen Gesprächsthema eine harmlose Wendung geben zu können.
Er lachte: „Und wer entginge der Liebe, mein gnädiges Fräulein? ‚Sie kommt doch!‘ behauptet ja Wilhelmine von Hillern, und ich hoffe, dass sich diese Saison, welche sehr flott zu werden verspricht, mit tausend berückenden Walzern und den glühendsten aller Rosen gegen Sie verbündet, Ihr Herz in süsse Fesseln zu schlagen!“
Wieder