Eine junge Frau entschuldigte sich und quetschte sich an Kurt Olsen vorbei. Das Büro wirkte langsam klaustrophobisch.
Isabella Munch war eines der neu eingestellten Mädchen bei der Polizei. Sie war gerade zur Kriminalpolizei gewechselt. Erst jetzt war Roland klar geworden, wie sehr Beamte des anderen Geschlechts gefehlt hatten. Weibliche Intuition war dermaßen Mangelware gewesen. Oft bediente er sich Irenes, aber es gab auch Grenzen dafür, wie weit er seine Frau mit Fällen belasten konnte. In manchen Fällen war es auch nicht besonders zweckmäßig und er brach seine Schweigepflicht, aber Irene war aufgrund ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin und als frühere Polizeisekretärin besser dafür geeignet als die meisten anderen Polizistengattinnen. Mit Isabella war die weibliche Intuition immer gleich vor Ort greifbar und er konnte sie nutzen, wann er wollte. Noch dazu kamen die anderen kleinen Vernügen, wie den maskulinen Mikkel erröten zu sehen, als die blonde Beamtin mit dem Pferdeschwanz ihn lächelnd ansah, weil sie ihm ziemlich nah kommen musste, um Roland ein Stück Papier zu reichen.
»Ich habe mir den Fall von damals mal näher angeschaut. Die Polizei von Mittel- und Westjütland ist sehr kooperationsbereit. Die Suche wurde 1984 eingestellt, nachdem man vier Monate lang keine heiße Spur gefunden hatte. Sie hat einen Sohn, Sebastian Juhl. Er wohnt in der Klosterstraße und arbeitet als Mechaniker in einer Autowerkstatt in Hasselager. Ich habe die Adresse rausgesucht, die dort angegeben war«, fuhr sie fort und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
Er bat Kurt Olsen, noch ein bisschen mit der Pressekonferenz zu warten, nahm seinen Mantel, der über der Stuhllehne hing, und winkte Mikkel zu sich.
»Wir fahren in die Klosterstraße«, teilte er kurz angebunden mit. Mikkel folgte ihm widerwillig. »Aber der Sohn kann doch nicht beantworten, ob das seine Mutter ist, die im Moor gefunden wurde. Und er kann sie unmöglich identifizieren«, murmelte er auf dem Weg zum Aufzug.
»Das mit der Identifizierung zieht sich anscheinend hin, also müssen wir die Sache wohl selbst in die Hand nehmen. Vielleicht kann der Sohn uns was erzählen.«
5
Sie wurde auf dem Flur angehalten.
»Annemette Knudsen?«
»Ja.«
»Sie ist gerade im Bad, aber es dauert nicht lange. Sie können eine Tasse Kaffee haben, während Sie warten.« Die Frau nickte in Richtung einer Menge verschiedenfarbiger Thermoskannen und Becher, die auf einem Couchtisch standen.
Annemette nickte, setzte sich auf ein hellgraues Sofa mit braunen Kaffeeflecken und wartete, während sie der Frau nachsah, die schnell in Richtung Flur verschwand. Sie hatte sie zuvor noch nicht gesehen, also war sie wohl neu. Aber sie kannte sich selbst mit den Thermoskannen aus, denn sie kam so oft wie möglich hierher. Sie hätte vorher anrufen sollen, wie sonst auch.
Die Sonne schien durch ein hohes Fenster herein und warf blendendes Licht über den polierten Boden und die weißen Wände. Sie betrachtete die abstrakten Malereien. Nicht, weil sie sie nicht schon mal gesehen hätte, sondern weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Rauchen durfte man hier nicht. Die Zeitung auf dem Tisch hatte sie morgens schon gelesen und Kaffee getrunken hatte sie den ganzen Vormittag im Büro. Nora hatte sich wieder gemeldet, sodass sie mit den ganzen Lohnabrechnungen allein war. Trotzdem war sie dankbar. Dankbar dafür, dass sie den Job trotz ihres Alters bekommen hatte. Als das Geld zur Neige ging, war es schwer gewesen, sich das Ganze leisten zu können. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Aber natürlich musste das eines Tages passieren, so wie sie gelebt hatte. Sie hatte nie etwas gespart.
Die Frau ging erneut vorbei, einen Stapel Handtücher im Arm, und teilte mit, dass sie fertig sei. Annemette stand auf. Warum war sie nicht einfach reingegangen? Warum war sie nicht aus dem Bad zu ihr gekommen? Das hätte sie ohne Weiteres machen können, selbst wenn die Neue sie darum gebeten hatte zu warten. Sie dachte über ihre ungewohnte Passivität nach, während sie den langen Flur mit den geschlossenen Türen entlangging. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Je näher sie kam, desto stärker klopfte ihr Herz, sodass sie meinte, man könnte es hören, als sie die Tür erreichte und die junge Frau betrachtete, ohne hineinzugehen. Sie hatte ihren Gast noch nicht bemerkt. Ihr langes Haar war feucht und ganz schwarz. Die Augen waren ebenfalls schwarz. Sie sahen zum Fenster und fixierten ausdrucklos etwas draußen am Horizont. Das Sonnenlicht ließ die dunkle Haut blass wirken. Ihr Vater war Spanier. Ein Versehen während eines Sommerurlaubs vor zwanzig Jahren.
»Hallo Kit.« Vorsichtig trat sie ein und setzte sich auf die gegenüberliegende Seite des Tisches. »Alles Gute zum Geburtstag.«
»Hi. Ich wusste nicht, ob du kommst.«
»Natürlich komme ich an deinem Geburtstag! Den müssen wir doch feiern.«
»Ich wurde gefeiert – mit Brötchen und Kakao. Deswegen musste ich ins Bad, ich hab Kakao verschüttet.« Kit versuchte zu lächeln, aber in ihren Augen standen Tränen.
Annemette strich ihr über die Wange. »Ach komm. Es war doch nur Kakao.«
»Ich hab mich verbrannt!«
Sie zog schnell die Hand zurück und steckte sie stattdessen in eine Tragetasche von Salling. »Ich hab ein Geschenk für dich.« Sie legte es auf den Tisch und wartete gespannt, während Kit es mit einem kleinen, schüchternen Lächeln auspackte.
»Was hast du dir jetzt ausgedacht? Das war doch nicht nötig. Gibst du mir einen Tipp?«
Das Auspacken dauerte ziemlich lange. Annemette wartete ruhig, aber ihr Fuß unterm Tisch wippte ungeduldig. Verdammt, wie gern sie jetzt eine rauchen würde. Bevor es ganz ausgepackt war, hielt sie den Pulli vor Kit. Das Lächeln erstarb langsam, auch in ihren braunen Augen.
»Magst du ihn? Kannst du erkennen, was die Pailletten darstellen?«
»Ja. Schmetterlinge. Er ist toll. Wirklich. Aber wann soll ich den anziehen? Wann brauche ich denn mal etwa so Schickes?«
»So ein Quatsch. Das brauchst du doch oft und so schick ist er nun auch wieder nicht, dass du ihn nicht im Alltag tragen könntest.«
Kit berührte vorsichtig die Pailletten. Es war ein Ausdruck in ihre Augen getreten, den Annemette noch nie leiden konnte. Es war einer dieser Tage. Einer dieser Tage, mit denen sie so schwer umgehen konnte.
»Warum hast du mich damals nicht einfach sterben lassen?«
»Nein, hör jetzt auf!«
»Ich weiß, dass du die Wahl hattest. Warum hast du nicht einfach gesagt, sie sollten ausschalten?«
Annemette sammelte geräuschvoll das Geschenkpapier ein und stopfte es in die leere Plastiktüte. »Wer erzählt denn so einen Unsinn? Woher hast du nur solche Gedanken?«
»Oma hat es mir erzählt. Sie sagte, du solltest die Entscheidung treffen. Das war damals, als sie mal Lust hatte, mich zu besuchen.«
»Oma ist krank. Es geht ihr sehr schlecht, und nur deswegen kommt sie nicht. Das weißt du genau.«
»Warum holst du sie dann nicht ab und bringst sie mit?«
Annemette ließ die Frage im Raum stehen.
»Ich hab mich doch damals richtig entschieden, oder? Sonst würdest du heute nicht Geburtstag feiern.«
»Und das wäre besser gewesen. Alles wäre besser gewesen als das hier!« »So was darfst du nicht sagen, Schätzchen.«
Der Puls stieg und das Zwerchfell krampfte sich zusammen. Hätte sie das Frühstück besser nicht ausfallen lassen sollen?
»Gibt es zur Feier des Tages nicht ein bisschen Kaffee und Kuchen?«
Sie versuchte die Gereiztheit in ihrer Stimme zu verbergen.
»Sie geben heute Abend eine Feier für mich. Kommst du?« Kit sah sie bittend an.
»Du weißt genau, ich kann nicht.« Sie nahm ihre