Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2. Inger Gammelgaard Madsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Inger Gammelgaard Madsen
Издательство: Bookwire
Серия: Roland Benito
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711572955
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wollte sie nicht hören. Nicht heute. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und atmete den Duft seines exklusiven Aftershaves ein, das zweifelsohne von Carola ausgesucht worden war.

      »Fahrt ruhig, Papa. Ich bestell mir eine Pizza.«

      Carola verzog das Gesicht, sagte aber nichts, als sie sichtlich erleichtert mit ihrem Mann abzog. Im Weggehen warf er ihr einen langen Blick zu, bevor sie die Tür schloss.

      8

      Er legte den Kopf zurück und genoss die Nachmittagssonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Anfang Oktober hatten sie natürlich nicht mehr die intensive Wärme des Sommers, aber es war unglaublich, er konnte hier draußen nur mit einem warmen Pullover sitzen. Die anderen Gäste des Cafés waren auch mehr oder weniger sommerlich gekleidet. Wenn das wirklich die globale Erwärmung war, passte sie ihm ganz ausgezeichnet. Einige der Mädchen saßen und trugen ihre nackten Beine zur Schau, sodass er weit an den sonnengebräunten Oberschenkeln hinaufsehen konnte. Vor ihm floss plätschernd das Aarhuser Flüsschen und reflektierte das Licht. Das Summen der Stimmen machte ihn schläfrig. Oder war es vielleicht das zweite Fassbier? Er schloss die Augen, aber wusste, dass sie noch da waren. Er hörte ihre Stimmen. Nicht worüber sie sprachen, aber das war auch egal. Hauptsache er wusste, dass sie nicht gegangen waren. Die Sonnenwärme im Gesicht trug seine Gedanken in der Zeit zurück. Die Gedanken fingen an, sich nur noch um eine Sache zu drehen. Seine Kindheit.

      Es war dieselbe Sonne, die sein Gesicht damals gewärmt hatte. Er war spät von der Schule heimgekommen. Die Haustür stand in der Sommerwärme offen. Er liebte ihre Stimme und freute sich, wenn sie sang. Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Herd und kochte. Er brachte es nicht übers Herz, reinzugehen und sie zu stören. Sie sang ›What’s Another Year‹, das in dem Jahr den internationalen Grand Prix gewonnen hatte. Als sie ihm das Profil zuwandte, um etwas aus dem Kühlschrank zu holen, sah er, dass eine Zigarette zwischen ihren roten Lippen hing, während sie sang. Sie rauchte nur, wenn sie wusste, dass niemand es sah. Noch ein guter Grund, sie nicht zu stören. Sie wurde sehr wütend, wenn man sie erwischte. Mit geschlossenen Augen setzte er sich auf die Treppe und lauschte, während die Sonnenstrahlen Schweiß auf seine Stirn trieben und das Blut unter der Nase trocknete. Es würde ihre gute Laune ruinieren, dass er in der Schule wieder verprügelt worden war. Er hatte Löcher in beide Knie bekommen, als ihn die großen Jungs auf den Asphalt des Schulhofs geworfen hatten. Unter dem einen Arm war das Hemd aufgerissen, und er hatte Nasenbluten. Er schlug sich immer ihretwegen, aber das wusste sie nicht. Die Jungs aus der Neunten nannten sie eine Nutte und sagten, sie zöge sich in dem Nachtclub aus, in dem sie nachts kellnerte, aber er wusste, dass es eine Lüge war. Das würde seine Mutter nie tun. Der Rektor hatte ihn mit in sein zigarrettenverseuchtes Büro mit braunen Möbeln genommen und ihm gedroht, seiner Mutter von den vielen Prügeleien zu erzählen, aber das sollte sie nicht wissen, damit sie nicht wieder traurig wurde. Er hatte ihn angefleht, nichts zu sagen und versprochen, sich nie mehr zu prügeln. Aber er war ja nicht derjenige, der anfing. Das waren die, die etwas Böses über seine Mutter sagten.

      Sie waren seit zwei Jahren allein, seit sein Vater bei einem Unfall auf der Baustelle umgekommen war. Er war gerade erst fünf geworden und erinnerte sich nicht so genau daran. Nur dass, als er noch lebte, alles anders war. Seine Mutter war immer zu Hause, kümmerte sich um ihn und seinen Vater. Manchmal durfte er auf einem Stuhl stehen und ihr beim Kochen helfen, bevor Papa von der Arbeit heimkam. Nichts Gefährliches, wie mit einem Messer zu schneiden oder so was, aber er durfte mit einem Löffel in einem Topf rühren oder Fleisch mit dem Fleischhammer klopfen, das machte am meisten Spaß. Damals war sie immer fröhlich. Aber als er starb, schloss sie sich im Schlafzimmer ein, und ein Sozialarbeiter der Gemeinde sorgte dafür, dass er in einer anderen Familie untergebracht wurde. Er hatte sie vermisst. Aber nach einem Jahr war sie total verändert und holte ihn in das kleine Haus zurück, in dem er die meiste Zeit seiner behüteten Kindheit verbracht hatte. Sie hatte einen Job als Kellnerin bekommen und konnte sie beide versorgen. Aber sie hatte nun auch einen Freund statt Papa. Er hasste ihn. Sie nannten ihn den »Afrikaner«, weil er immer nach Afrika reiste. Wenn er den lauten Motor seines verrosteten, roten Sportwagens hörte, konnte er sich genauso gut in seinem Zimmer einschließen, weil seine Mutter keine Augen mehr für andere hatte und so peinlich wurde.

      Ein ungewöhnlicher Duft bahnte sich seinen Weg von der Küche über die Treppe nach draußen. Sie sollten heute etwas Besonderes essen. Nicht das gewöhnliche Mittwochsessen. Weder Fisch noch Gemüse, sondern etwas Leckeres. Der Hunger meldete sich wie ein leeres Loch im Bauch. Aber dann hörte er, wie sie eine Flasche Wein öffnete und danach das Geräusch von Gläsern, als sie diese aus dem Schrank nahm. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Die Vorfreude erstarb. Sie kochte nicht für ihn. Er würde zum Abendessen kommen.

      Er zuckte zusammen, als er einen Automotor brummen hörte. Schnell öffnete er die Augen. Das Geräusch, das ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte, kam von einem Taxi, das betrunkene Gäste aus dem Café einsammelte. Dann merkte er, dass ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren. Ein Kellner war dabei, die leeren Tassen abzuräumen und ihren Tisch abzuwischen.

      Er entdeckte sie, kurz bevor sie um die Ecke beim Kaufhaus Magasin in Richtung Immervad verschwanden. Er griff nach dem Kellner und bekam dessen Ärmel zu fassen, sodass der beinahe das Tablett mit Gläsern und Tassen fallen ließ. Er bezahlte seine Fassbiere und folgte ihnen schnell.

      9

      Emma war ein gutes Stück jünger als ihre verstorbene Schwester. Sabrina hatte immer viel von ihrer direkten und unvorhersehbaren Art gehalten. Sie lächelte, als Emma, schon bevor sie sich an einen freien Tisch setzten, zwei SMS entgegengenommen und beantwortet hatte – auf einem kleinen, modernen, silbernen Handy mit so winzigen Tasten, dass sie selbst sie nicht treffen würde. Aber Emmas kleine, dicke Daumen bewegten sich schnell auf ihnen, wie die eines Teenagers. »Das war mein Enkel, der mir gesimst hat«, erklärte sie mit einem müden Lächeln und tippte weiter, während sie sich setzte. Die rotgeränderten Augen zeugten davon, dass sie in den letzten Tagen viel geweint hatte.

      Sabrina nickte nur. Sie kannte Emmas Familie nicht besonders gut, so oft trafen sie sich nicht. Emma wohnte ein bisschen außerhalb von Ribe und blieb nur in Aarhus, bis sie damit fertig waren, die Wohnung zu räumen. Sie wohnte während der Zeit im Hotel Cabinn neben dem Aarhuser Theater. Kaj, ihr Mann, war zu Hause geblieben. Sie hatte einen Bauernhof mit kleinen Schweinen, die versorgt werden mussten.

      »Nee, das dauert hier wirklich zu lange«, rief Emma aus, sobald sie das Handy in die Tasche gelegt hatte. »Wo bleibt der Kellner bloß?«

      Die beiden sahen zum Café, wo zwei Kellner im Linienverkehr zwischen den offenen Türen des Cafés und den Tischen entlang des Flusses auf und ab eilten. Es waren viele Menschen unterwegs. Die Sonne schien und wärmte wie an einem Sommertag, die meisten hatten freibekommen und genossen eine Tasse Kaffee oder ein Fassbier, bevor sie nach Hause gingen. Nur die Angestellten der Läden mussten neidisch in den Sonnenschein hinausschauen. Es dauerte noch ein paar Stunden, bis auch sie an der Reihe waren. Aus dem Haupteingang des Magasin strömten Leute hinein und heraus.

      »Die haben doch viel zu tun, Emma. Haben wir denn keine Zeit zu warten?«

      Emma erhob sich ungeduldig. Sie war eine kleine, kräftige Dame, verstand es aber, sich geschickt zu kleiden, sodass es nicht das Erste war, das einem auffiel. Die Sonne ließ den weißen Pagenkopf wie Silber leuchten, die kleinen Augen sahen trotzig aus. Sie klemmte ihre Tasche unter den Arm und richtete sich auf. »Nee, Sabrina. Wir haben zu tun. Wenn wir mehrere Stunden warten müssen, um eine einfache Tasse Kaffee serviert zu bekommen, schaffen wir heute nichts mehr.« Sie verschwand mit schnellen, kleinen Schritten im Gedränge des Cafés, die Tasche unter den Arm gepresst, als ob sie fürchtete, jemand würde sie ihr hier in der Großstadt stehlen. Sabrina lächelte wieder. Drinnen würde sie ganz sicher auch warten müssen.

      Sie lehnte sich in dem nicht besonders bequemen Caféstuhl zurück, dessen Rückenlehne an der Wirbelsäule scheuerte, und betrachtete die Passanten. Zog man die Jahreszeit in Betracht, waren die Leute sehr dünn angezogen. Sie genoss den Duft aus dem Café. Eine wohlriechende Tasse Espresso oder Cappuccino nach der anderen wurde an ihr vorbeigetragen. Die Atmosphäre ließ sie an Italien und Peter denken. Jetzt, da sie von ihm weg