Das Rechtsmedizinische Institut war letzten Herbst in neuere, größere und bessere Räumlichkeiten in der Skejby Uniklinik gezogen. Dem hatte man sowohl mit Wehmut als auch mit Freude entgegengesehen. Der Rechtsmediziner Henry Leander hatte viele Jahre seines einundsechzigjährigen Lebens in den Räumen des alten Städtischen Krankenhauses, das heute Aarhus Krankenhaus hieß, verbracht, sich aber oft darüber beklagt, den Platz mit dessen Pathologen teilen zu müssen. In seine Arbeit versunken stand er über den Tisch gebeugt, als Roland Benito hereinkam. Er richtete sich auf und schenkte seinem alten Freund das übliche großzügige Lächeln, sodass sich der weiße Fahrradlenkerschnurrbart bis zu den Ohren hob.
»Hereinspaziert, Herr Kriminalkommissar«, begrüßte er ihn fröhlich und konzentrierte sich dann wieder auf seine Arbeit.
Roland kam zu spät. Er war gerade aus einem wohlverdienten Sommerurlaub in seinem Heimatland zurückgekommen und hatte die süditalienische Stimmung noch nicht ganz abgeschüttelt. Schnell grüßte er die anderen bei einer Obduktion obligatorisch Anwesenden, die in einer kleinen Gruppe in angemessenem Abstand vom Stahltisch versammelt waren. Nur ein Fotograf der Kriminaltechnischen Abteilung wagte sich mit seiner Kamera näher. Seine Augen funkelten vor Abscheu über der Nasenmaske.
Die Leiche ließ Roland sofort an einen Moorfund denken, was es natürlich auch war. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und hielt es vor die Nase, bis Leander ihm eine Nasenmaske reichte. Die Lüftung, die ein ganzes Stück besser als die im alten Institut war, konnte den süßlichen Todesgeruch nicht bekämpfen, der ihn an die Straßen Neapels voll stinkendem Abfall erinnerte. Trotz allem war der Geruch im Sezierraum nicht so schlimm, wie er hätte sein können, weil von der Leiche fast nur noch Haut und Knochen übrig waren. Die Fäulnisgase, die unerträglich stanken, waren schon längst verflogen.
»Gibt’s schon neue Erkenntnisse bezüglich Todesursache und -zeitpunkt? Haben wir hier einen neuen Grauballe-Mann?«, fragte er.
Sie waren früh am Morgen zusammen an der Fundstelle im Moor gewesen und hatten gemeinsam mit den Kriminaltechnikern und einem Bagger die braune Leiche aus dem Wasser gezogen und sie auf eine Bahre gelegt, sodass Leander die Leichenschau vornehmen und seine Beobachtungen ins Diktiergerät sprechen konnte.
Leander schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. »So lang liegt das wohl nicht zurück. Es sieht auch gar nicht wie ein Opfer für die Götter aus. Die Todesursache scheint ein harter Schlag gegen den Hinterkopf zu sein. Vielleicht mehrere.« Vorsichtig drehte er den braunen Schädel mit Überresten von Haaren, deren ursprüngliche Farbe man nur erahnen konnte, sodass der Hinterkopf Roland und den anderen Anwesenden zugewandt war. Mit der weißen, behandschuhten Hand zeigte er auf ein Loch im Schädel. »Es sieht nach einem schweren, harten Gegenstand aus, der mit einer gewaltigen Kraft durch den Hinterkopf ging. Das Gewicht beträgt ungefähr drei Kilo, schätze ich.«
Er rückte ein Stück zur Seite, damit Roland näher kommen konnte.
»Mord?«
»Das nehme ich an.«
Roland beugte sich herunter und betrachtete das Loch im Schädel genauer. Er richtete sich auf und studierte den Rest des eingefallenen Körpers. Die braune Lederhaut war um die Knochen, die an einigen Stellen gelblich hervorstachen, eingesunken. Es war schwer, die Farbe der spärlichen Kleidung zu erkennen, die noch übrig war. Der Rest war sicher weggespült worden oder hatte sich im Moorwasser aufgelöst. Das Gesicht bestand nur aus leeren Augenhöhlen, einem dreieckigen Loch, wo die Nase gewesen war, und einer Reihe gelblicher Zähne mit sehr langen Zahnhälsen, die im Kiefer entblößt waren. Er bekam den Eindruck, dass der Schädel lachte, und sah stattdessen die Rechtsmediziner an.
»Eine Frau?«
Leander nickte und drehte behutsam den Kopf der Leiche zurück, wobei er sie nur mit den Fingerspitzen berührte, als ob er die Tote nicht wecken wollte. Zu Toten hatte er ein spezielles Verhältnis. Wenn er allein war, sprach er mit ihnen, als ob sie noch lebendig wären, beklagte ihr Schicksal und tröstete sie damit, dass der Täter bestimmt gefunden werden würde, wenn die Leiche ihm die Auskünfte gegeben habe, die sie bis dahin verborgen hatte.
»Das Becken lässt auf eine Frau schließen. Eine, die geboren hat. Ich schätze, sie ist um die dreißig. Ich habe ein paar Zähne an den Gerichtsodontologen geschickt, um die Bestätigung zu bekommen. Die Zähne können auch bei der Identifikation helfen. Fingerabdrücke können wir getrost vergessen.«
Alle sahen auf die Finger des Opfers. Von den Fingerspitzen waren nur noch Knochen übrig.
»Sie hat nichts bei sich, was Auskunft darüber gibt, wer sie ist, und sie hat lange im Moor gelegen«, fuhr Leander unbeirrt fort.
»Wie lange?«
Leander schaute Roland über den Brillenrand hinweg an. »Auf jeden Fall zwanzig Jahre.«
Einen Augenblick lang starrte er auf die Leiche, ohne etwas zu sehen, während die Worte eindrangen. »Du sagst also, wir haben es mit einem Mord zu tun, der in den Achtzigern begangen wurde?« Er sah in Leanders stahlgraue Augen.
»So sieht’s aus. Es muss einen ungelösten Fall mit einer verschwundenen Frau geben. Wenn ich die Ergebnisse der Analysen bekomme, kriegst du eine etwas genauere Jahreszahl.«
»Warum ist die Leiche nicht vorher an die Oberfläche gekommen – und warum hat niemand sie entdeckt?« Kurt Olsen hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. Er war im neuen Polizeibezirk zum Vizepolizeidirektor ernannt worden und hatte seitdem ein bisschen von allem gesehen.
»Die Fäulnisgase bringen eine Leiche tatsächlich dazu, im Wasser an die Oberfläche zu steigen, doch sie sinkt wieder auf den Grund zurück, sobald sich die Gase verflüchtigen. Aber das ist schon vor langer Zeit passiert. Warum sie jetzt an die Oberfläche kommt, ist schwer zu beantworten. Vielleicht liegt es an dem warmen Herbst oder völlig anderen, unbekannten Faktoren«, antwortete Leander.
»Nach so vielen Jahren müsste die Leiche doch aufgelöst sein?« Kurt kratzte sich am Hals, der, wie immer, wenn er gestresst war, von roten Flecken übersät war.
»In all den Jahren im Moor wurde sie ziemlich gut konserviert. Das liegt daran, dass Moorleichen wegen der Säure, die die Pflanzen abgeben, keinen Bakterien ausgesetzt sind. Wenn die Leiche ins Wasser geworfen wurde, bevor sich die Bakterien ausgebreitet haben, sind die Möglichkeiten zur Konservierung am besten. Zum Beispiel, wenn sie gekühlt wird.«
»Du denkst also, sie wurde vielleicht eingefroren ins Moor geworfen?« Roland fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar, das unter der starken süditalienischen Sonne ein bisschen aufgehellt worden war, und sah wieder zu Leander.
Er nickte. »Vielleicht wurde sie an einem kühlen Ort aufbewahrt, bevor sie ins Moor geworfen wurde. Die Eingeweide sind sehr gut erhalten, was darauf schließen lässt, dass sie nicht verwesen konnten, bevor die Säure im Moor ihre Wirkung entfalten konnte. Das saure, sauerstoffarme Wasser und vielleicht niedrige Temperaturen hatten auch Einfluss darauf. Das Wasser kann sehr kalt gewesen sein – vielleicht ein Wintertag, da gibt’s mehrere Möglichkeiten.«
Das wohlbekannte Rumoren im Darm und der bittere Geschmack im Rachen meldeten sich, und Roland wusste, dass er bald da raus musste. Viele Jahre im Job hatten ihn doch ein bisschen mehr abgehärtet als damals, als er als junger Polizeianwärter seine erste Leiche bei einer Obduktion gesehen hatte. Er hatte versucht sich zusammenzureißen, aber schließlich sein Frühstück dem Fußboden geopfert, über die Schuhe des Rechtsmediziners, vor allen anderen Polizeianwärtern, die ebenfalls blass um die Nase gewesen waren und angestrengte Schluckbewegungen gemacht hatten.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde die Leiche im Moor von zwei Jungs gefunden«, unterbrach Kurt Olsen seine Gedanken.
»Ja,