Die Bibel erklärt uns, warum das so ist. Wir sind als „Gottes Ebenbild“ erschaffen (1. Mose 1,26-27). Es kann kein Ebenbild geben ohne ein Original, das in dem Bild widergespiegelt wird. „Ebenbild Gottes“ zu sein bedeutet, dass wir Menschen nicht dazu erschaffen worden sind, aus uns selbst heraus zu leben. Wir müssen unsere Bedeutung und unsere Sicherheit von etwas beziehen, das außerhalb von uns liegt und von allerhöchstem Wert ist. Dass wir als Gottes Ebenbild erschaffen sind, bedeutet, dass wir für den wahren Gott leben müssen. Tun wir dies nicht, müssen wir etwas anderes zu unserem Gott machen, um das unser Leben kreist.31
Die Seeleute wussten, dass die menschliche Identität immer in den Dingen wurzelt, von denen wir unsere Erlösung erwarten und denen wir unsere tiefste Loyalität zusagen. Zu fragen: „Wer bist du?“, heißt zu fragen: „Wem gehörst du?“ Wissen, wer ich bin, heißt wissen, wem ich mich hingegeben habe, was mich kontrolliert, wem oder was ich im Tiefsten vertraue.
Geistlich oberflächliche Identität
Endlich beginnt Jona etwas zu sagen. In dem Schiff hatte er so viel Abstand zu den „unreinen“ Heiden gehalten wie möglich. Als der Kapitän ihn gedrängt hatte, zu seinem Gott zu beten, hat er nur geschwiegen. Erst als das Los geworfen wird und die gesamte Schiffsbesatzung Jona zur Rede stellt, gibt es eine Antwort von dem widerwilligen Propheten.
Die Frage nach seiner Volkszugehörigkeit ist die letzte in der Liste der Fragen, aber Jona beantwortet sie zuerst. „Ich bin ein Hebräer“, beginnt er. In einem sprachlich so sparsamen Text ist es bedeutsam, dass Jona die Reihenfolge der Einzelfragen umdreht und seine ethnische Zugehörigkeit zum wichtigsten Teil seiner Identität macht. Wie wir oben sahen, hat die Identität eines Menschen mehrere Aspekte oder Schichten, von denen die einen fundamentaler sind als die anderen. Ein Ausleger hat es mal so ausgedrückt: „Da Jona sich zuerst ethnisch identifiziert und dann erst religiös, können wir den Schluss ziehen, dass in seiner Selbstidentität die ethnische Zugehörigkeit ganz vorne steht.“32
Während Jona zwar an Gott glaubte, schien dieser Glaube nicht so tief und fundamental für seine Identität gewesen zu sein wie seine Ethnie und Nationalität. Viele Menschen in der Welt betrachten ihre Religion als etwas, das sie auf ihre ethnische Zugehörigkeit draufsetzen, die für sie wichtiger ist. Da sagt zum Beispiel eine Frau: „Na, ich bin lutherisch, was denn sonst – ich bin doch Norwegerin!“, obwohl sie nie zur Kirche geht.
Allmählich beginnen wir zu verstehen, warum Jona sich so dagegen gewehrt hat, als Bußprediger nach Ninive zu gehen. Es hängt genau damit zusammen, dass für sein Selbstbild das Ethnische wichtiger war als das Religiöse. Wie könnte für jemanden mit einer Identität, die geistlich so oberflächlich ist, der Auftrag, andere Völker zum Glauben an Gott zu rufen, attraktiv sein? Jonas Beziehung zu Gott war für ihn weniger fundamental als seine Nationalität – und so war die Entscheidung klar, als er zwischen seiner Loyalität zu seiner Nation und der zu Gottes Wort wählen musste: Lieber stehe ich zu meinem Volk, als dass ich Gottes Liebe und Wort in eine fremde Gesellschaft trage …
Leider finden wir heute bei vielen Christen ganz ähnliche Einstellungen. Das ist nicht einfach das Ergebnis mangelhafter Bildung oder kultureller Scheuklappen. Vielmehr ist ihre Beziehung zu Gott, die sie durch Christus haben, nicht tief genug in ihre Herzen gedrungen. So wie wir es bei Jona sehen, definieren auch bei ihnen Gott und seine Liebe nicht die fundamentalste Schicht ihrer Identität. Dabei ist selbstverständlich Nationalität nicht das Einzige, was die Entwicklung eines christlichen Selbstbildes blockieren kann. Da glaubt zum Beispiel jemand ehrlich, dass Jesus für seine Sünden starb, aber sein Selbstwert und seine Sicherheit gründen sich viel mehr auf seinem Beruf und seinem Bankkonto als auf der Liebe Gottes durch Jesus Christus.
Solche „seichten“ christlichen Identitäten, denen es an Tiefgang fehlt, erklären, warum es gläubige Christen geben kann, die Rassisten oder gierige Materialisten sind, die süchtig nach oberflächlicher Schönheit oder leerem Vergnügen sind, oder von Angst und Sorgen geplagt sind und sich ständig überarbeiten. All dies kommt daher, dass das wahre Fundament ihrer Selbstidentität nicht die Liebe Christi ist, sondern weltliche Macht, Bestätigung von anderen, ein behagliches Leben oder der Wunsch, alles zu kontrollieren.
Verblendende Identität
Eine solche geistlich seichte Identität führt auch dazu, dass wir uns nicht so sehen, wie wir wirklich sind. Hier sehen wir Jona, der ein Prophet Gottes ist, mit einer privilegierten Position in Gottes Bundesvolk, und auf Schritt und Tritt ist er begriffsstutzig, nur mit sich selbst beschäftigt, borniert und töricht. Aber er scheint das überhaupt nicht zu bemerken, er ist blinder für seine Fehler als alle, die ihn erleben. Wie kann das sein?
Jona erinnert uns an eine andere Person aus der Bibel: Petrus. Auch Petrus hatte eine privilegierte Position im Volk Gottes. Er war einer der persönlichen Freunde von Jesus, und darauf war er auch stolz. Kurz bevor Jesus verhaftet wurde, schwor Petrus, dass er Jesus nicht verlassen würde, wenn die Verfolgung käme, auch wenn alle anderen das tun würden (Johannes 13,37; Matthäus 26,35). Er sagte Jesus sinngemäß: „Meine Liebe und Hingabe zu dir ist größer als die der anderen Jünger. Ich werde tapferer sein als sie, egal, was passiert!“ Und dann erwies er sich als der größte Feigling von allen, als er Jesus drei Mal öffentlich verleugnete. Wie konnte Petrus so blind für sein wahres Wesen sein?
Die Antwort ist, dass Petrus’ Grundidentität nicht so sehr in Jesu Liebe und Gnade zu ihm wurzelte als vielmehr in seiner Hingabe und Liebe zu Jesus. Seine Selbstachtung fußte auf der Hingabe an Christus, die er (wie er dachte) erreicht hatte. Er war selbstsicher gegenüber Gott und Menschen, weil er doch ein so treuer Jünger Jesu war. Eine solche Identität führt zu zwei Dingen.
Das Erste ist, dass man blind dafür wird, wie man wirklich ist. Wenn ich meinen Selbstwert daraus beziehe, was für ein mutiger Kerl ich bin, bricht eine Welt zusammen, wenn ich zugeben muss, dass ich feige gewesen bin. Wenn mein Ich sich durch meine Stärke definiert, bedeutet jeder Anfall von Schwäche, dass ich kein „Ich“ mehr habe. Dann fühle ich mich, als hätte ich gar keinen Wert mehr. Tatsache ist: Wenn ich meine Identität auf irgendetwas gründe, was mit Leistung, Gutsein oder Tugend zu tun hat, muss ich meine Fehler und Schwächen permanent verdrängen und verstecken. Meine Identität wird nicht fest genug sein, um meine Sünden, Schwächen und Macken zuzugeben.
Das Zweite ist, dass ich Menschen, die anders sind als ich, mit Feindseligkeit statt Respekt begegne. Obwohl Jesus den Jüngern etliche Male gesagt hatte, dass man ihn verhaften würde und dass dies so kommen müsse, zog Petrus ein Schwert hervor, als es dann so weit war, und hieb einem der Häscher ein Ohr ab. Jede Identität, die in dem gründet, was ich bin und leiste, ist instabil. Ich kann nie sicher sein, dass ich genug getan habe. Einerseits bedeutet das, dass ich mich nie ehrlich meinen eigenen Fehlern stellen kann, aber andererseits auch, dass ich meine Identität immer wieder dadurch stabilisieren muss, dass ich mich auf eine aggressive Weise von denen absetze, die anders sind als ich.
Petrus und Jona waren beide stolz auf ihre