Paulus spricht dort zuerst von solchen Menschen, die Gott ganz offen ablehnen und für die gilt: „Es gibt keine Art von Unrecht, Bosheit, Gier oder Gemeinheit, die bei ihnen nicht zu finden ist“ (Römer 1,29). Doch dann, in Kapitel 2, wendet er sich denen zu, die versuchen, nach der Bibel zu leben. „Du fühlst dich sicher, weil du das Gesetz hast, und bist stolz darauf, den wahren Gott zu kennen. Du kennst seinen Willen und hast ein sicheres Urteil in allen Fragen, bei denen es um Gut und Böse geht, weil du dich im Gesetz auskennst“ (Römer 2,17-18). Und dann, nachdem er sich sowohl die unmoralischen Heiden als auch die hochmoralischen Juden, die ihre Bibel kennen, angesehen hat, zieht er das bemerkenswerte Resümee: „Keiner ist gerecht, auch nicht einer. […] Alle sind vom richtigen Weg abgewichen“ (Römer 3,10-12). Die einen versuchen eifrig, Gottes Gesetz zu befolgen, und die anderen lassen es links liegen, aber beide „sind vom richtigen Weg abgewichen.“ Beide, jeder auf seine eigene Art, rennen sie von Gott weg. Wir alle wissen, dass man sich von Gott abwenden kann, indem man unmoralisch und gottlos wird, aber Paulus sagt, dass es auch dadurch möglich ist, dass man superreligiös und hochmoralisch wird.
In den Evangelien gibt es ein klassisches Beispiel für diese beiden Methoden, Gott davonzulaufen. Wir finden es in Lukas 15, in dem Gleichnis von den beiden Söhnen.12 Der jüngere Sohn flieht vor der Kontrolle seines Vaters, indem er sich das Erbe ausbezahlen lässt, sein Zuhause verlässt, gegen die Werte des Vaters rebelliert und gerade so lebt, wie es ihm gefällt. Der ältere Sohn bleibt zu Hause und gehorcht seinem Vater in allem, aber als sein Vater mit dem Rest seines Vermögens etwas tut, was dem Sohn missfällt, wird er zornig auf ihn, und es wird deutlich, dass im Grunde auch er seinen Vater nicht liebt.
Der ältere Sohn gehorchte seinem Vater nicht aus Liebe, sondern eigentlich nur, um gut vor ihm dazustehen und Punkte zu sammeln, um Macht über ihn zu bekommen, sodass der Vater wiederum nach seinem Willen handeln würde. Beide Söhne vertrauten der Liebe ihres Vaters nicht. Beide versuchten, sich von ihm frei zu machen – der eine, indem er alle Gebote des Vaters missachtete, der andere, indem er sie peinlich genau einhielt.
Hazel Motes, einer der Protagonisten aus einem Roman der amerikanischen Schriftstellerin Flannery O’Connor, weiß: „Wer Jesus aus dem Weg gehen will, muss der Sünde aus dem Weg gehen.“13 Wir glauben dann, dass wir, wenn wir schön fromm und tugendhaft sind, sozusagen das Unsere getan haben. Jetzt kann Gott nichts mehr von uns verlangen, sondern ist jetzt im Gegenteil unser Schuldner, der unsere Gebete erhören und uns segnen muss. Das ist keine Hinwendung zu Gott in Liebe, Freude und Hingabe, sondern eine Methode, ihn zu kontrollieren und ihn immer auf Abstand zu halten.
Diese zwei Arten, vor Gott davonzulaufen, gehen beide von der Lüge aus, dass Gott es nicht gut mit uns meint. Wir glauben, ihn dazu zwingen zu müssen, uns das zu geben, was wir brauchen. Wir mögen ihm rein äußerlich gehorchen, aber wir tun das nicht für ihn, sondern für uns. Wenn wir dann den Eindruck haben, dass er unseren Gehorsam nicht gebührend belohnt und uns vorenthält, was wir doch verdient hätten, dann kann die ganze Fassade von Moralität und Rechtschaffenheit, die wir uns aufgebaut haben, ganz schnell in sich zusammenbrechen. Nachdem wir uns so lange innerlich von Gott distanziert haben, schlägt das nun in den offenen Aufstand gegen ihn um. Wir werden zornig und laufen voller Wut von ihm weg.
Im Alten Testament ist Jona das klassische Beispiel dieser beiden Methoden, von Gott wegzulaufen. Jona ist erst der „jüngere Sohn“ aus dem Gleichnis und dann der „ältere“. In den ersten beiden Kapiteln ist Jona dem Herrn ungehorsam und läuft davon, besinnt sich dann aber eines Besseren und kommt reumütig zurück, wie der jüngere Sohn in dem Gleichnis. Und dann, in den letzten beiden Kapiteln, gehorcht er Gottes Auftrag, Ninive zu predigen, und wird so zu dem älteren Sohn. Doch beide Male versucht er, selbst die Kontrolle über das Geschehen zu bekommen.14 Als Gott die Buße der Menschen von Ninive akzeptiert, ist Jona – wie der ältere Sohn in Lukas 15 – selbstgerecht und zornig darüber, dass Gott den Sündern so gnädig ist.15
Genau hier zeigt sich Jonas Problem: das Geheimnis der Gnade Gottes. Es ist ein theologisches Problem, aber auch ein Herzensproblem. Solange Jona blind dafür ist, dass auch er ein Sünder ist, der allein durch die Gnade Gottes lebt, wird er nie begreifen, wie Gott gleichzeitig gnädig gegenüber bösen Menschen und trotzdem gerecht und treu sein kann. In der ganzen Geschichte von Jona mit all ihren Wendungen geht es letztlich darum, dass Gott Jona an die Hand nimmt oder ihn auch mal am Kragen packt und ihm diese Dinge zeigt.
Jona rennt und rennt. Aber was er auch anstellt und wie er seine Strategien auch ändert, der Herr ist ihm immer einen Schritt voraus. Auch Gott passt seine Strategien an, zeigt uns auf immer neue Arten seine Gnade, obwohl wir das weder verstehen noch verdienen.
Kapitel 2
Die Stürme der Welt
3 Er ging hinab nach Jafo, fand ein Schiff, das nach Tarschisch fuhr, bezahlte den Fahrpreis und stieg hinein, um mit ihnen nach Tarschisch zu fahren, weg vom Angesicht des HERRN. 4 Aber der HERR warf einen großen Wind auf das Meer, und es gab solch einen gewaltigen Sturm, dass das Schiff zu zerbrechen drohte. (Jona 1,3b-4)
Jona läuft davon, aber Gott lässt ihn nicht los. Der Herr „warf einen großen Wind auf das Meer“ (V. 4). Das Wort „werfen“ wird oft im Zusammenhang mit Waffen benutzt, z. B. einem Speer (vgl. 1. Samuel 18,11). Es ist ein anschauliches Bild von Gott, der einen gewaltigen Sturm auf das Meer um Jonas Schiff herum „wirft“. Es war ein „großer“ Wind; mit demselben Wort (hebr. gedola) wird Ninive in Vers 2 beschrieben. Wenn Jona sich weigert, in eine große Stadt zu gehen, bekommt er einen großen Sturm. Für uns ist das gleichzeitig eine ernste und eine tröstliche Botschaft.
Stürme durch Sünde
Die ernste Botschaft ist, dass jeder Akt des Ungehorsams gegen über Gott einen Sturm mit sich bringt. Dies ist eines der großen Themen der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, besonders des Buchs der Sprüche. Wir müssen hier jedoch aufpassen. Es ist nicht so, dass jede Schwierigkeit, die wir erleben, die Strafe für eine bestimmte Sünde ist. Ein ganzes biblisches Buch – Hiob – beschäftigt sich damit, dass guten Menschen eben nicht immer nur Gutes widerfährt und dass nicht immer dann, wenn uns Böses geschieht, eine Sünde der Grund dafür sein muss. Die Bibel sagt nicht, dass jede Schwierigkeit die Folge von Sünde ist – sehr wohl aber, dass jede Sünde mich in Schwierigkeiten bringt.
Wir können nicht unseren Körper vernachlässigen und erwarten, kerngesund zu sein. Wir können nicht unsere Freunde vernachlässigen und erwarten, dass sie unsere Freunde bleiben. Wir können nicht unsere eigenen Interessen über das Gemeinwohl stellen und trotzdem eine gut funktionierende Gesellschaft erwarten. Wenn wir die Konstruktion und den Sinn der Dinge missachten – wenn wir gegen unseren Körper, unsere Beziehungen oder die Gesellschaft sündigen –, wird sich das rächen. Unser Verhalten hat Konsequenzen. Wenn wir die Gesetze Gottes verletzen, verletzen wir unser eigenes Wesen, denn Gott hat uns dazu geschaffen, ihn zu kennen, zu lieben und ihm zu dienen. Die Bibel redet manchmal davon, dass Gott Sünde bestraft („Der HERR verabscheut alle Hochmütigen […]. keiner von ihnen kommt ungestraft davon“, Sprüche 16,5), aber auch davon, dass die Sünde selbst uns bestraft („Ihre Gewalttätigkeit reißt die Gottlosen mit ins Verderben, denn sie wollen sich nicht an das Recht halten“, Sprüche 21,7). Beides ist wahr. Zu jeder Sünde gehört ein Sturm.
Der Alttestamentler Derek Kidner schreibt: „Sünde […] führt zu Rissen im Gebäude des Lebens, die unausweichlich zum Zusammenbruch führen müssen.“16 Allgemein formuliert: Wer lügt, wird meist selbst belogen, wer zuerst angreift, wird auch angegriffen, und wer von dem Schwert lebt, wird durch das Schwert sterben. Gott hat uns dazu erschaffen, vor allem anderen für ihn zu leben; das ist gleichsam die geistliche „Voreinstellung“ für unser Leben. Wenn wir unser Leben und unseren Sinn auf etwas anderes gründen als auf Gott, handeln wie gegen die Gesetzmäßigkeiten des Universums und gegen das, wozu Gott uns geschaffen hat.
Die