Die Laiendarsteller*innen während der Dreharbeiten zu EIN SACK VOLLER FLÖHE, Ausschnitte mit einem Off-Kommentar von Věra Chytilová aus GOLDENE SECHZIGER: VĚRA CHYTILOVÁ, DIE REGISSEURIN von Martin Šulík
Durch die inszenierte und involvierte teilnehmende Beobachtung, die zugleich eine fiktionale Rolle innerhalb der improvisierten Handlung markiert, findet Chytilová eine ebenso beachtliche wie aufregende Lösung für den Einsatz der subjektiven Kamera als erzählerische Instanz im Film. Allzu oft erscheinen derartige Versuche konstruiert, wenn nicht gar schwerfällig bis irritierend. Das Problem wiederholt sich durch die gesamte Filmgeschichte, von Robert Montgomerys LADY IN THE LAKE (DIE DAME IM SEE, 1947), der durchgehend aus der subjektiven Sicht des ermittelnden Detektivs Philip Marlowe visuell präsentiert wird und aufgrund der Langsamkeit der schweren Kamera wie ein Hardboiled-Ermittler auf Valium erscheint, bis hin zur russischen Videospiel-Actionfilm-Variation HARDCORE (2015), die im Rahmen eines Kurzfilms überzeugend wäre, aber nicht einen gesamten Spielfilm trägt. Die Kamera als Medium des Erzählens in der ersten Person funktioniert in der Regel nur, wenn sie wie in THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) oder CLOVERFIELD (2008) innerhalb der Diegese auch an die Perspektive eines Aufzeichnungsgeräts gekoppelt ist.
Dass entgegen zahlreicher anderer gescheiterter Versuche innerhalb der Filmgeschichte die subjektive Kamera in Zusammenspiel mit der Montage in EIN SACK VOLLER FLÖHE als Erzählinstanz überzeugt, hängt mit der Integration dokumentarischer Cinéma-vérité-Konventionen zusammen, die auch in den meisten Found-Footage-Horrorfilmen in Nachfolge des BLAIR WITCH PROJECT bemüht werden.
Im Unterschied zum verlangsamten, artifiziell anmutenden Schauspiel in Filmen wie DIE DAME IM SEE bezieht Chytilová die kreativen Möglichkeiten des Zufalls in ihre Inszenierung mit ein. Später erklärte sie in einem Gespräch über die Dreharbeiten: »Weil wir aber jede Passage nur einmal drehen wollten, musste ich entweder vorher alles bis ins Detail mit dem Kameramann abgesprochen haben oder mich voll und ganz auf den mir so sympathischen Zufall verlassen.«10
Als einen Sack voller Flöhe, auf den der Titel des Films anspielt, bezeichnet einer der Aufseher während einer Tanzveranstaltung in einer der letzten Szenen die porträtierten Jugendlichen. Chytilová betrachtete es als wichtiges Anliegen, den jungen (Selbst-)Darsteller*innen ihre eigene Sprache zu lassen. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu den immer ein wenig belehrend anmutenden Reflexionen des Cinéma vérité. Nicht die Filmemacherin setzt sich mit der Clique um die aufrührerische Jana zusammen, sondern die regelmäßigen Besprechungen mit ihren Vorgesetzten und Erzieher*innen werden in den Film integriert und die Kamera nimmt als mögliche Subjektive von Eva selbst die Position einer Anwesenden ein, die nicht über den Dingen steht, sondern diese lediglich registriert. Entsprechend fielen die ersten Reaktionen der porträtierten Institution und der verantwortlichen Produzenten zuerst empört und skeptisch aus. Es sollte fast ein Jahr dauern, bis EIN SACK VOLLER FLÖHE zur Aufführung gelangte.
Peter Hames bemerkt über das außergewöhnliche Konzept: »Mit EIN SACK VOLLER FLÖHE drehte Chytilová einen der tschechischen Filme, die dem Direct Cinema und dem Cinéma vérité am nächsten kommen. Dennoch befindet er sich, trotz der oberflächlichen Gemeinsamkeiten, weit von einer Dokumentation entfernt […]. Die Besetzung des Films besteht vollständig aus Laiendarstellern, die ihre eigene Wirklichkeit und ihre eigenen Erfahrungen auf die Leinwand brachten.«11 Hames weist außerdem darauf hin, dass sich der Einsatz von Bild und Ton mit den kreativen Zielen der Regisseurin unmittelbar ergänzt. Die teilnehmende Beobachtung, die sich in eine Performance verwandelt, war ihrer Zeit weit voraus. Bulgakowa weist darauf hin, dass der Film zugleich als künstlerisches Experiment wie als soziologisches Porträt von Jugendlichen funktioniert: »Die Methode der inszenierten Beobachtung eines Menschen, der letztendlich sich selbst spielt, filterte das dramaturgische Situationsschema und hob es mitsamt der authentischen Abbildung auf eine Ebene der Stilisierung.«12 In der Filmgeschichte der frühen 1960er Jahre bildet EIN SACK VOLLER FLÖHE ebenso wie DIE DECKE einen ebenso faszinierenden wie innovativen Ausnahmefall.
III. AUTOMAT SVĚT – Wellenbewegungen und Ausblick
Die frühen Kurzfilme von Chytilová skizzieren nicht nur neue künstlerische und ästhetische Perspektiven, die Formen und Funktionen des Cinéma vérité und des Direct Cinema bis hin zur situativen Spielhandlung weiterdenken. Sie bilden auch die stilistische Grundlage für ihre späteren Arbeiten. Thematisch untereinander verbundene Situationen integrieren performative Elemente und Momente der Improvisation jenseits der starren Vorgaben einer linearen Erzählung.
Chytilovás erster abendfüllender Film VON ETWAS ANDEREM kombiniert effektvoll semi-dokumentarische Spielhandlung und in Szene gesetzte Dokumentation. TAUSENDSCHÖNCHEN knüpft an die in EIN SACK VOLLER FLÖHE erprobte provokante Arbeit mit Laiendarstellern an und verwandelt deren anarchische Streifzüge in eine spielfreudige Performance zwischen einem um verschiedene Themenfelder konstruierten Happening und dem provokanten Gestus des einige Jahre später mit kreativer Destruktivität auftretenden Punk.
Am eindrucksvollsten zeigt sich die Auswirkung des ästhetischen Programms der frühen Kurzfilme in dem indirekten Nová-Vlna-Manifest PERLIČKY NA DNĚ (PERLEN AUF DEM MEERESGRUND, 1965), für den Jiří Menzel, Jan Němec, Evald Schorm, Jaromil Jireš und Chytilová jeweils eine Kurzgeschichte des mit ihnen befreundeten Schriftstellers Bohumil Hrabal adaptierten. In dem von Chytilová bearbeiteten Segment AUTOMAT SVĚT (STEHIMBISS WELT) finden sich noch einmal die unterschiedlichsten Formen filmischer Inszenierung zwischen Spielfilm und Dokumentation effektvoll kombiniert. Während im oberen Stockwerk eines Gasthauses eine ausgelassene Hochzeitsfeier ihren Verlauf nimmt, entdeckt die Wirtin, dass sich auf der Toilette im Erdgeschoss eine Frau erhängt hat. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird von der Kamera Jaroslav Kučeras mit nahezu dokumentarischer Beiläufigkeit beobachtet, und dennoch finden sich immer wieder einzelne Details wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe des Gasthauses, die in den ersten Einstellungen den Blick auf den Schauplatz verschleiern und der Inszenierung eine zusätzliche poetische Ebene verleihen. Erst langsam erschließt sich das anfangs unübersichtliche Geschehen. Die aufdringlichen Gäste werden von der Wirtin vor die Tür gesetzt, an deren Scheibe sie sich dennoch weiterhin schaulustig pressen. Das Eintreffen der Ärzte und der Polizei wird ebenso wie die Zurechtweisung der vor der Tür lauernden Neugierigen wie in einer Direct-Cinema-Dokumentation von der Kamera beiläufig registriert. Am Tresen findet sich ein vereinsamter Künstler ein. Er berichtet der Wirtin, dass er von seiner Freundin verlassen wurde. Für diese habe er einen Gipsabdruck nach Art einer Totenmaske anfertigen müssen. Sie habe versucht, ihn zum gemeinsamen Selbstmord zu überreden, beim Gedanken an die nach dem Sprung aus dem Fenster verunstalteten sterblichen Überreste sei sie jedoch zurückgeschreckt. Regulär arbeite er als Künstler, in seiner letzten Ausstellung »Die Fabrik – Eine taktile Erfahrung« habe er mit ästhetischer Präzision abstrakte Installationen angefertigt. In kurzen Einschüben zeigt der Film, wie der Künstler mit einem Hammer seine Werke bearbeitet. In deutlichem Kontrast zu seinen aufgehängten abstrakten Arbeiten sind an der gegenüberliegenden Wand des Ausstellungsraums großformatige Porträts von Marx und Lenin zu sehen. Während der Künstler, aus dessen