Nächtliche Passage durch Paris in FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT von Louis Malle
Peter Hames weist auf die Parallelen zu bestimmten Traditionen der filmischen Avantgarde hin: »The film’s final sequence, as she [Marta] walks through the city streets at night and eventually leaves the city, recalls the final abstract sequence of Antonioni’s L’ÉCLISSE, which appeared the same year. The city streets at night, of course, recall a particular tradition in avant-garde film. There are typical images of the night – a couple, a cat, workmen, mending tramlines and a man who tries to pick up Marta. Mannequins in a shop window, lampshades and a neon sign in the form of a rocket suggest a critique of consumerism but also seem strange and alien. The whole is accompanied by a modernist score by Jan Klusák, ending with images in which Marta is framed by a stone wall and passes through ranks of trees in what one takes to be a symbolic rebirth.«8
Aus einer filmphilosophischen Perspektive lässt sich diese nächtliche Passage durch Prag am Ende von DIE DECKE im Dialog mit ähnlich gelagerten Sequenzen aus Louis Malles ASCENSEUR POUR L’ÈCHAFAUD (FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, 1958) und dem bei Hames erwähnten L’ÉCLISSE (LIEBE ’62, 1962) von Michelangelo Antonioni betrachten. In beiden Filmen finden sich ebenfalls exponierte Sequenzen, in denen die Kamera atmosphärische bis experimentelle Streifzüge durch das urbane Ambiente absolviert. In Louis Malles Hommage an den klassischen Film noir folgt die Inszenierung der von Jeanne Moreau gespielten Florence, nachdem der gemeinsam mit ihrem heimlichen Geliebten gefasste kriminelle Plan scheinbar gescheitert ist. Begleitet von einem Cool-Jazz-Soundtrack, den Miles Davis eigens für den Film komponiert hat, zieht sie durch die nächtliche, abweisende Stadt, vorbei an Schaufenstern und Kneipen. Innere Monologe geben ihre Verzweiflung und ihre Reflexionen über die eigene unglückliche Situation wieder. Donnergeräusche auf der Tonspur deuten ein nahendes Gewitter an. Florences nächtliche Odyssee bewegt sich in einer schwer zu fassenden Grauzone zwischen Flanieren und orientierungslosem Irrweg. Die moderne urbane Entfremdung wird in den Szenen, die Florence meistens aus einer Halbnahen folgen, unmittelbar erfahrbar. Von der Faszination des Großstadtdschungels, die spätere Neo-Noir-Variationen, unter anderem im französischen Cinema du Look der 1980er Jahre bestimmt, lässt sich kaum etwas erahnen.
Der Blick auf die Stadt entspricht ganz den Paradigmen der Hochmoderne: Fragmentarische Erfahrungen und Anonymität bestimmen die Wahrnehmung. Noch radikaler formuliert den Zusammenhang zwischen der Auflösung des Individuums in der kapitalistischen Konsumgesellschaft und der Gesichtslosigkeit der Großstadt Antonioni. Am Ende von LIEBE ’62 ist lediglich in statischen Bildern über mehrere Minuten hinweg der verlassene Treffpunkt zu sehen, an dem sich die beiden, von Alain Delon und Monica Vitti gespielten Hauptfiguren verabredet hatten und den offensichtlich keiner von beiden zum vorgesehenen Zeitpunkt aufgesucht hat. Wie in den letzten Einstellungen von Antonionis Thriller-Variation BLOW UP (1966) scheinen die Protagonist*innen aus ihrem eigenen Film verschwunden zu sein. Der Philosoph Martin Seel schreibt in seinem Buch Die Künste des Kinos über LIEBE ’62: »Nachdem auch Vittorias Affäre mit dem jungen Börsenmakler Piero (Alain Delon) im Sand verlaufen ist, zeigt der Film sieben Minuten lang Schauplätze des Stadtteils, in dem sich die beiden bevorzugt getroffen haben. Zu sehen sind Straßen, Winkel, Fassaden und Plätze – wie zufällig ausgewählte Blicke auf Stationen, die nicht länger Orte eines gemeinsamen Lebens sind. Mit dokumentarischem Gestus verweilt der Film bei abnehmendem Tageslicht im eigenen Raum, dem der Magnetismus der Anziehung zwischen Vittoria und Piero entzogen ist. Keinerlei Stimmen sind zu hören, nur verstreute Geräusche der weitgehend menschenleeren Vorstadt. Diese visuelle Arie auf eine verlorene Liebe wird begleitet von einer statisch-retardierenden, am Ende aber, als die Nacht hereingebrochen ist, in eine expressive Geste mündenden Orchestermusik (Giovanni Fusco). Nachdem die Räume der Geschichte des Films durchquert sind, bleibt nur noch nachhallender Raumklang übrig.«9
Věra Chytilová nimmt eine Position zwischen der Objektwelt Antonionis und der subjektivierten Haltung Malles ein. DIE DECKE erzielt, indem die Emotionen Martas sich nicht ganz eindeutig erkennen lassen, eine abstrakte Qualität. Der dem Streifzug durch die Nacht vorangegangene Blick auf eine Decke signalisiert, dass es sich bei der nächtlichen Odyssee entlang von Schaufenstern und Boutiquen anscheinend um die Grenzen handelt, an die Marta in ihrer Entfremdung stößt. Die Bildkomposition zieht Parallelen zwischen ausgestellten Schaufensterpuppen und Martas fremdbestimmtem Rollenverhalten. Ihr Gesicht wird im Halbschatten gezeigt und ihr Gang durch eine symmetrische Baumallee impliziert einen Übergangsritus. Im Zusammenspiel mit Jan Klusáks experimenteller Musik deutet Chytilová wie bei Louis Malle subjektive Zustände an, formuliert diese jedoch nicht eindeutig aus. Durch diese bewusste Ambivalenz nähert sie sich Antonionis Blick auf die urbane Moderne an. Chytilová und ihr Kameramann Jaromir Sofr folgen bei den Aufnahmen ohne feste Vorgaben der Darstellerin Marta Kanovská durch die Stadt. Zufällig eingefangene Impressionen wie ein Schweißer, der Schienen repariert, verleihen den Szenen eine ganz eigene poetische Qualität, die über die ernüchternde und beklemmende Präsentation der Bilder bei Antonioni hinaus verweist und eine neue Offenheit in der Deutung ermöglicht.
Im Unterschied zu L’ÉCLISSE gibt es in DIE DECKE aufgrund der Präsenz von Marta nach wie vor eine Handlungsträgerin. Wie in ihren späteren Arbeiten, insbesondere in den kreativen Destruktionsorgien von TAUSENDSCHÖNCHEN, gibt Chytilová keine Wertung vor. Im Niemandsland zwischen Dokumentation und Spielfilm werden die von DIE DECKE aufgeworfenen Fragen auf ästhetisch anregende Weise ganz im Sinne der Moderne an das Publikum delegiert. Anstelle des vereinfachenden, von den Kritikern des Drehbuchs vorgesehenen Gesinnungswandels, wird Marta von den Zwängen einer überdidaktischen Erzählung befreit und in eine ungewisse Zukunft entlassen.
Die Rebellion gegen narrative Schemata in den frühen Filmen der Nová Vlna lässt sich nicht nur als Paradigmenwechsel in der filmischen Haltung gegenüber dem Realen verstehen. Statt die Antworten durch eine konventionelle Handlung und ein ästhetisches Programm, sei es der Sozialistische Realismus oder die Tradition der Qualität, bereits vorzugeben, sollen vielmehr mit einer gewissen Neugier und einem ausgeprägten Bewusstsein für filmische Formen neue Fragen an die Wirklichkeit und die Kunst formuliert werden. Dazu gehört auch, dass Außenseiter*innen und ausgegrenzte Lebenswirklichkeiten in den Blick genommen werden, ohne ihnen gleich ein Umerziehungsprogramm zu verordnen.
In ihrem zweiten semi-dokumentarischen Kurzfilm EIN SACK VOLLER FLÖHE kombiniert Věra Chytilová, nachdem sie in DIE DECKE die Grenzen des Dokumentarischen zum reflexiven abstrakten Essay-Film ausgelotet hat, die Einflüsse des Cinéma vérité mit einer als Spielfilm umgesetzten Reportage.
II. EIN SACK VOLLER FLÖHE – Der integrierte Zufall möglicherweise
Gemeinsam mit einer Gruppe von Laiendarsteller*innen, die sie aus einem Internat bei den Textilfabriken von Náchod rekrutiert hatte, realisiert Věra Chytilová 1963 EIN SACK VOLLER FLÖHE. Das gleiche Umfeld erkundet auch ihr Kollege Miloš Forman zwei Jahre später mit seiner Tragikomödie LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY (DIE LIEBE EINER BLONDINE, 1965). Doch Chytilová interessiert nicht unbedingt das Ungleichgewicht zwischen einer Überzahl an Fabrikarbeiterinnen und ihren männlichen Kollegen, das Forman für eines der absurdesten Blind Dates der jüngeren Filmgeschichte nutzt. Stattdessen rückt sie die jungen Auszubildenden selbst in den Mittelpunkt und improvisiert gemeinsam mit ihnen nach vagen Vorgaben die Handlung des Films.
Die langen Vorarbeiten und Recherchen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen in Náchod rücken EIN SACK VOLLER FLÖHE in die Nähe einer Reportage. Die Unmittelbarkeit des Direct Cinema und die teilnehmende Beobachtung des Cinéma vérité wird in EIN SACK VOLLER FLÖHE um eine subjektive Perspektive erweitert, die sich bei genauerer Betrachtung als fiktionale Intervention erweist. Die subjektive Kamera übernimmt die Sicht der neuen Schülerin Eva.
Durch die raffinierte stilistische Volte, die Kamera selbst zur Mitspielerin innerhalb der Diegese zu erklären, vermeidet Chytilová die Haltung einer distanzierten Beobachterin, wie sie von einer Reportage zu erwarten wäre. Die zahlreichen Großaufnahmen