Für die späteren Protagonist*innen der beginnenden Nová Vlna1, die Anfang der 1960er Jahre mit KŘIK (DER SCHREI, 1964) von Jaromil Jireš, ČERNÝ PETR (DER SCHWARZE PETER, 1963) von Miloš Forman und O NĚČEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963) von Věra Chytilová ihren Durchbruch auf den internationalen Filmfestivals feierte, ging es jedoch nicht nur um eine neue Art des dokumentarischen Blicks zwischen spontanen Impressionen und einer Ethnografie des Alltags. Wie Forman nachdrücklich betont, ging es bei den Wahlverwandtschaften mit den internationalen Neuen Wellen zuallererst um ein Aufbegehren gegen die Platitüden und das verzerrte Weltbild des sozialistischen Realismus mit dessen Stereotypen des heldenhaften Arbeiters. Das an der Prager Filmhochschule FAMU erworbene Wissen um die Filmgeschichte und deren Nuancen diente der Nová Vlna zur bewussten Abgrenzung gegenüber den pauschal glorifizierten Heldenfiguren aus der Arbeiterklasse und dem staatlich verordneten Fortschrittsglauben, die ästhetisch nicht einmal das Niveau der biederen französischen Qualitätsfilme erreichten. Cinéma vérité bedeutet für Forman, Chytilová und ihren Kreis daher nicht nur die Vorgehensweisen des neuen Dokumentarfilms aufzugreifen, sondern vielmehr dessen Formen bis an die Grenze zur Fiktion auszuloten.
Persönliche filmische Handschrift und performativ-dokumentarisches Experiment ergänzen sich in den frühen Kurzfilmen der FAMU-Absolvent*innen unmittelbar. Während Miloš Forman und Ivan Passer mit der anarchischen Spielfreude ihrer »dokumentarischen Komödie«2 die Stereotypen des weltfremden sozialistischen Realismus unterwandern, nutzt Věra Chytilová in DIE DECKE und EIN SACK VOLLER FLÖHE die Ansätze des Cinéma vérité, um über diese gleichsam mit den Techniken der internationalen filmischen Avantgarde hinaus zu gelangen. Indirekt skizziert sie damit bereits das innovative Feld für ihr in SEDMIKRÁSKY (TAUSENDSCHÖNCHEN, 1966) realisiertes »Spiel des Verderbens«, in dem sie die sonst häufig distanzierte Haltung des Dokumentarischen in ein Spannungsfeld zwischen künstlerischer Abstraktion und performativer Teilhabe befördert.
Chytilovás Inszenierung lässt Freiraum für Improvisationen, besteht aber dennoch auf der Bedeutung der filmischen Form. Rückblickend erklärt sie in einem Porträt der Serie ZLATÁ ŠEDESÁTÁ (GOLDENE SECHZIGER, 2009), dass es ihr um einen Standpunkt und nicht um die Erzählung gegangen sei. Durch ihre Lust am Experiment und durch die bewusste Konfrontation der traditionellen narrativen Muster des Dokumentarischen mit dem Unvorhergesehenen umschiffen sowohl DIE DECKE als auch EIN SACK VOLLER FLÖHE als Beispiele künstlerisch-soziologischer Recherche die Fallgruben des traditionellen Cinéma vérité.
Im Sinne des ethnografischen Ansatzes von Morin und Rouch, die in CHRONIK EINES SOMMERS einen Sommer lang unterschiedliche Personen in Paris begleitet und befragt haben, versucht das Cinéma vérité die Porträtierten durch konkrete Interaktion in ihrem Alltag authentisch abzulichten. Das von Regisseur*innen wie D. A. Pennebaker, Chris Hegedus und Albert und David Maysles geprägte, stilistisch verwandte Direct Cinema verfolgt hingegen die Idee, hinter den Kulissen von politischen Wahlkampfauftritten und Rock-Konzerten mit der Kamera als Fly-onthe-Wall Beobachtungen außerhalb der Fassaden der öffentlichen Inszenierung einzufangen.
Thorolf Lipp schreibt in seiner Einführung zu Spielarten des Dokumentarischen: »Die filmische Form des Direct Cinema soll beim Zuschauer die Illusion erzeugen, er sei direkt vor Ort. Die ›entfesselt‹ beobachtende, meist auf der Schulter geführte und daher sehr bewegliche Kamera ist ein wichtiges gestalterisches Merkmal dieser filmischen Gattung. Um das Geschehen möglichst unauffällig aufnehmen zu können, muss ein Direct Cinema Filmteam seine störende Anwesenheit auf ein Minimum reduzieren.«3
Die vermeintlich unsichtbare Kamera, die in DON’T LOOK BACK (1967) Bob Dylan auf einer England-Tour und in GIMME SHELTER (1969) die Rolling Stones auf einer Reise durch die USA bis hin zur Katastrophe des Altamont-Festivals begleitet, definiert nicht nur die bis heute gültigen Standards der Rockumentaries. Sie kokettiert auch mit dem Versprechen, die Stars ungeschminkt und privat einzufangen, während sie, wie etwa Madonnas durchgehend selbstbewusst in Szene gesetzte Dokumentation IN BED WITH MADONNA – TRUTH OR DARE (1991) anschaulich belegt, in den meisten Fällen jedoch in erster Linie neue performative Räume kreiert, derer sich die Prominenten durchaus bewusst sind.
Die scheinbar neutrale Beobachterposition des Direct Cinema erweist sich auf längere Sicht ebenso wie die vermeintliche Intimität der selbstreflexiven Gesprächsrunden des Cinéma vérité als Illusion und dankbare Zielscheibe für das Format der Mockumentaries, Fake-Dokumentationen, in denen die zum Klischee geronnenen Manierismen eines allzu unmittelbaren Dokumentarfilms vergnüglich dekonstruiert werden.
Die Arbeiten der Nová Vlna geraten erst gar nicht in die Gefahr, dem naiven Blick des allzu unmittelbaren Dokumentarischen zu erliegen, denn sie machen sich, vielleicht aufgrund der Erfahrung der stalinistisch geprägten 1950er Jahre, von Anfang an keine Illusionen über das schwierige Verhältnis zum Abgebildeten. Stets beziehen sie inszenatorische Rahmensetzungen ein, die unterschiedliche Modalitäten des Dokumentarischen bis an die Grenze zum Essay-Film auf der einen und zum improvisierten Spielfilm auf der anderen Seite ausloten. Im Unterschied zur ironischen Satire der Mockumentaries fokussieren sie sich nicht auf die Demontage vermeintlicher Authentizitätssignale und deren Rhetorik, sondern erproben sich an einer bis heute ungewöhnlichen Kombination filmischer Inszenierungsstrategien im Grenzgebiet zwischen künstlerisch geformtem Realismus und einem performativ aufgebrochenen Formalismus.
Wie der Filmhistoriker Peter Hames treffend über den tschechischen Realismus in den frühen Filmen der Nová Vlna anmerkt: »Die Amerikanische Schule, die sich auf den Bereich des Dokumentarischen beschränkt, nimmt die Position eines Beobachters ein, während die Französische Schule eine interaktive und partizipatorische Funktion des Filmemachens bevorzugt. Im tschechischen Kino lassen sich beide Varianten als Teil einer einzigen schöpferischen Vision finden, die zugleich auch verschiedene andere Elemente wie die späte neorealistische Tradition und im Fall von Forman auch klassische Elemente einer Filmkomödie enthält.«4
Die besondere Leistung Chytilovás und der Nová Vlna in ihren Variationen des Dokumentarischen besteht darin, dass sie Alternativen zu einer allzu starren Auslegung des Cinéma vérité und auch des Direct Cinema ersonnen und überlegt zur Anwendung gebracht haben. Die klassischen, von Paul Ward in Anlehnung an Bill Nichols als »expository, observational, interactive und reflexive modes«5 benannten Modalitäten des Dokumentarfilms weichen in DIE DECKE und EIN SACK VOLLER FLÖHE neuen Perspektiven, die sowohl Elemente des Cinéma vérité als auch des Direct Cinema einbeziehen. Zugleich werden diese Bezüge jedoch durch weitere Rahmungen in einem umfassenderen Geflecht filmischer Formen aufgelöst.
I. Autobiografische Abstraktionen und urbane Impressionen: DIE DECKE
Mit ihrem Abschlussfilm DIE DECKE realisiert Věra Chytilová 1962 eine Kombination aus episodischem Spielfilm, Essay-Film, Momentaufnahmen im Stil des Direct Cinema und avantgardistischen Stadt-Impressionen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die junge Marta (Marta Kanovská), die zugunsten einer Karriere als Model ihr Medizin-Studium aufgegeben hat. Der Plot des Films verarbeitet autobiografische Erfahrungen: Chytilová hatte die Studiengänge Chemie, Philosophie und Architektur begonnen, bevor sie als einzige weibliche Absolventin neben Jiří Menzel und anderen zukünftigen Vertretern der Nová Vlna in die Regieklasse des FAMU-Mitbegründers Otokar Vávra aufgenommen wurde.