»Sie irren sich, Herr Schönau. Und jetzt lassen Sie mich sofort los, sonst schreie ich die ganze Klinik zusammen.« Ihre Augen funkelten vor Zorn, aber das spornte den jungen Assistenzarzt nur noch mehr an. Er mochte Frauen, die nicht gleich dahinschmolzen, wenn er sie nur ansah.
»Du machst mich verrückt, Mandy. Und darauf kannst du dir wahrlich etwas einbilden. Das hat noch keine vor dir geschafft.«
»Lassen Sie mich los, Herr Schönau. Ich lege keinen Wert darauf, Sie verrückt zu machen.« Gewaltsam riß sie sich los.
»Das wird dir noch leid tun«, zischte Gerd Schönau böse. »Vergiß nicht, ich bin Arzt und du nur Krankenschwester. Ich kann dir allerhand Steine in den Weg legen. Und daß ich das auch tun werde, dessen kannst du sicher sein.« Hastig drehte er sich um und ging mit raschen Schritten davon.
Wie betäubt blieb Amanda Veil stehen. Sie mußte sich an die Wand lehnen, weil ihre Knie weich wurden. Sie hatte schon seit einer ganzen Weile das Gefühl, daß Gerd Schönau ihre Kolleginnen gegen sie aufhetzte, denn oft verstummten Gespräche, wenn sie einen Raum betrat.
Meist wurde sie dann neugierig beobachtet, und manchmal wurden sogar bedeutungsvolle Blicke gewechselt oder leise getuschelt. Ja, jetzt fiel Mandy so manches auf, was sie früher nur so am Rande registriert hatte.
Aber wie sollte sie sich dagegen wehren? Ihre Gedanken wanderten zurück zu Klaus Meinradt, der jetzt schon auf dem Heimweg war. Würde er die leere Wohnung ertragen können? Mandy wußte, wie deprimierend es war, wenn man nach Hause kam und einen niemand erwartete. Sie hatte die Erfahrung nach dem Tod der Mutter selbst gemacht.
Als sich die junge Frau wieder einigermaßen beruhigt hatte, ging sie schweren Herzens an ihre Arbeit zurück. Aber irgend etwas fehlte, und das fiel auch ihren Patienten auf, die sie versorgen mußte.
Mandy lachte nur noch selten und ihre Liebe zu ihrem Beruf ließ auch nach. Täglich traf sie zwangsläufig mit Gerd Schönau zusammen, dessen Gemeinheiten sie hilflos ausgesetzt war. Sie vermochte sich nicht dagegen zu wehren.
»Da sind Sie ja, Schwester Mandy.« Mit wehendem Kittel kam Dr. Schmoll auf sie zu. »Was haben Sie denn? Sie sind ja weiß wie die Wand.«
»Es ist nichts, Herr Doktor«, wehrte die junge Frau verlegen ab. »Mir ist heute nur nicht ganz gut.«
Wohlwollend betrachtete der weißhaarige Arzt die Krankenschwester. Zwar hatte er sich nie an dem allgemeinen Tratsch beteiligt, der in fast jedem Krankenhaus blühte, aber trotzdem war ihm so manches zu Ohren gekommen. Außerdem kannte er Mandy schon seit vielen Jahren und hatte sie auch als vorbildliche Krankenschwester schätzengelernt.
Er ahnte, daß ihr Unwohlsein mit ihrer Entlobung zusammenhing und vielleicht auch mit Klaus Meinradts Entlassung aus dem Krankenhaus. Aber wie er ihr helfen konnte, das wußte der ältere, erfahrene Mann auch nicht.
»Kommen Sie, Mandy, ich habe eine dringende Aufgabe, die Sie…«
Mandy nickte, aber ihre Gedanken gingen eigene Wege.
*
Energisch zog der Taxifahrer die Handbremse an, ehe er ausstieg. »So, wir sind da. In welchem Haus wohnen Sie?«
Klaus Meinradt deutete auf ein weiß gestrichenes Einfamilienhaus, das mitten in einem weitläufigen Garten stand.
Das Gras war schon seit einigen Monaten nicht mehr gemäht worden, und das Unkraut wucherte in voller Blüte. Überhaupt machte sein Heim einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Keiner der Nachbarn hatte sich darum gekümmert.
Verbittert preßte der Mann die Lippen zusammen. Eigentlich brauchte er sich nicht zu wundern. Früher, zu Iris’ Lebzeiten, hatten sie jeden Kontakt zu der Nachbarschaft vermieden, weil sie sich selbst genügt hatten.
Und jetzt, jetzt würde er eben diesen Kontakt wahrscheinlich schmerzlich vermissen.
Vorsichtig stellte Klaus seine Beine auf den asphaltierten Gehsteig. Dann schob er sich mit den Armen aus dem Auto. Ein heftiger Schmerz fuhr durch seinen Rücken, so daß er eine Sekunde matt die Augen schließen mußte.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, hörte er da wie durch eine Nebelwand die Stimme des freundlichen Taxifahrers. »Sicher waren Sie lange Zeit im Krankenhaus.«
»Fast drei Monate«, gab Klaus knapp Auskunft. Er mochte es nicht, wenn soviel Aufhebens um seine Person gemacht wurde, aber in diesem Fall konnte er sich nicht dagegen wehren. Er war noch auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen.
Mühsam stützte sich Klaus auf seine Krücken und humpelte langsam auf das Haus zu. Er merkte wohl, daß sich hier und da ein Vorhang bewegte, aber niemand kam heraus, um ihm behilflich zu sein.
Als sein Koffer endlich vor der Haustür stand und er den Taxifahrer großzügig entlohnt hatte, holte Klaus erst einmal tief Luft. Jetzt kam der schwerste Augenblick seines Lebens.
Mit bebenden Händen steckte er den Schlüssel ins Schloß. Es war nicht einmal abgeschlossen, denn er hatte ja nicht mit so einer langen Abwesenheit gerechnet.
Dicke, eingesperrte Luft strömte ihm entgegen, als er die Tür aufstieß. Zunächst mal muß ich gründlich lüften, sagte er sich, um sich von seinen wehmütigen Gedanken abzulenken.
Überall lag eine dicke Staubschicht. Hilfesuchend schaute sich Klaus Meinradt um. An der Garderobe hing noch das Kopftuch, das Iris an jenem verhängnisvollen Sonntag vergessen hatte.
Hastig griff Klaus nach seinem Koffer. Wieder fuhr ein schneidender Schmerz durch seinen Rücken. Er hatte sich zu schnell gebückt und dabei nicht aufgepaßt.
Mühsam stieg er die Treppen hinauf zum Schlafzimmer. An der Tür zögerte er, aber dann trat er schließlich ein. Einmal mußte es ja doch sein, warum dann nicht gleich.
Eigentlich machte der Raum mit den hellen Möbeln einen bewohnten Eindruck. Nur der Staub, der auf der Kommode lag und die stickige Luft brachten die ganze Verlassenheit dieses Hauses zum Ausdruck.
Klaus stellte seinen Koffer ab und ging langsam zum Fenster. Es klemmte, als er es öffnen wollte. Ach ja, richtig, es hatte schon immer geklemmt, und Iris hatte sich jedesmal geärgert, weil er es noch nicht gerichtet hatte.
Iris!
Gedankenverloren starrte der Mann aus dem Fenster in den Garten hinunter, der immer der ganze Stolz seiner Frau gewesen war. Und nun war sie tot.
Mit hängenden Schultern schleppte sich Klaus zu seinem Bett. Als er die Zudecke zurückschlug, wirbelte Staub hoch und nahm ihm für eine Weile die Luft zum Atmen. Er hustete und hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Dann legte er sich hin und starrte an die weiße Decke.
Jetzt einfach einschlafen können und nicht mehr aufwachen müssen, schoß es ihm durch den Kopf. Mit einem Schlag wären dann alle Probleme gelöst.
Aber nein, da war ja noch Ulli. Er brauchte seinen Vater, und er hatte auch ein Recht auf ihn.
Klaus stöhnte und drehte seinen Kopf zur Seite. Sein Blick fiel auf eine Fotografie in einem goldenen Rahmen. Iris! Alles in diesem Haus erinnerte ihn an seine tote Frau. Konnte er mit ihrem Schatten leben?
Die Tabletten fielen ihm ein, die Dr. Schmoll ihm mitgegeben hatte. »Für die erste Zeit«, hatte er mitleidig gesagt, »wenn Sie nicht schlafen können, dann nehmen Sie eine davon.«
Mühsam stand der Versicherungskaufmann noch einmal auf. Es war zwar erst Vormittag, aber er fühlte sich so matt, als ob er schon tagelang nicht mehr geschlafen hätte. Er brauchte diese Tabletten, und wenn sie alle waren, dann würde er zu seinem Hausarzt gehen und sich wieder welche verschreiben lassen. Ja, das wollte er tun.
Seine Finger zitterten, als er das Röhrchen mit den weißen runden Pillen aus seinem Koffer hervorkramte. Wenn er alle auf einmal nahm, dann…
Aber Ulli, Ulli braucht mich doch.
Aus dem angrenzenden Badezimmer