»Entschuldige, Tes!« murmelt er schuldbewußt und kommt näher, um mich auf die Stirn zu küssen. Er stinkt nach Knoblauch, Wein und Rauch, und ich würde ihn am liebsten bitten, sich zum Teufel zu scheren. Die Hebamme läßt uns weise mit der Bemerkung allein, daß sie gleich zurückkomme.
»Es tut mir wahnsinnig leid!« wiederholt er und geht in die Hocke, so daß wir auf einer Augenhöhe sind. »Die Zeit ist mir einfach davongelaufen ...«
Er hat wirklich ein schlechtes Gewissen. Sein Blick ist verschleiert, sein Mund ist angespannt, wie er nur ist, wenn Paul verletzt ist oder unter Druck steht. Es muß etwas passiert sein. Etwas außerordentlich Schreckliches.
»Bist du mir untreu gewesen?« frage ich spontan.
Paul bricht in ein überwältigendes Lachen aus.
»Nein! Aber ich bin tatsächlich mit einer fremden Dame essen gewesen.«
»Mit der Kopenhagener Redakteurin von TV 2?« frage ich mit einem steifen Blick auf die Zeiger der Wanduhr. Zwei und eine halbe Minute. Noch dreißig Sekunden. »Und was wollte sie?«
»Mich angucken!«
»Das hat sie ja wohl verdammt gründlich gemacht, was? Mit drei Gängen, Kaffee und avec! Tut sie das mit allen zukünftigen Mitarbeitern? Dann kann ich aber verflucht noch mal gut verstehen, warum die Sender ökonomische Probleme haben!« spucke ich hitzig aus und schlage die Decke zur Seite. »Geh mal zur Seite!« kommandiere ich dann und schwinge meine Beine herüber.
»Was willst du denn?« fragt Paul verwirrt.
»Raus zum Scheißen!« zische ich und schaffe es gerade noch, das Schloß zu drehen und die Hosen herunterzuziehen, bevor der Darminhalt herausschießt.
Der Einlauf hat offensichtlich wirklich etwas in Gang gesetzt, denn ich habe mich kaum von den furchtbaren peristaltischen Krämpfen erholt und brause mich gerade ab, als sie angejagt kommt. Die erste gute Wehe. Wie ein Gürtel aus glühendem Eisen umklammert sie meinen Unterleib mit dem Höhepunkt um den Nabel, der herausgepreßt ist und wie ein zitternder Knopf auf dem aufgeblähten Bauchbogen sitzt. Von Schmerzen, die jenseits jeder Vorstellungskraft liegen, aufgespießt, klammere ich mich an den Brausekopf, die kurze Minute, die es dauert, bis die Wehe vorbei ist, leise stöhnend.
»Tes? Bist du okay?«
Pauls Knöchel an der Tür.
»Ja!« sage ich und schüttele den Kopf. Ich hatte ihn fast vergessen.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« fragt er dumm und kommt heran, um den Arm fürsorglich um mich zu legen, als ich ruhig mit bloßen Beinen und nackten Füßen aus der Toilette komme. Ich weiß, daß es sich nicht lohnt, die Leggins wieder anzuziehen.
»Paul, es geht los«, antworte ich matt, als befände er sich auf einem Planeten in einem anderen Sonnensystem. »Vielleicht ist es am besten, wenn du gehst!«
»Ich soll gehen?« ruft er fassungslos aus. »Tes, so hart darfst du mich nicht bestrafen!«
»Ich will dich nicht bestrafen«, sage ich und spüre, wie ein neuer Angriff auf den Weg geschickt wird. »Ich möchte nur am liebsten allein sein!«
Ich schließe die Augen, atme tief ein, damit die Lungenflügel mit Luft gefüllt sind und ich dieses Mal der Wehe schwebend begegnen kann, um dem freien Fall der Schmerzen zu entgehen. Als ich die Augen wieder öffne, steht Pauls Mund ungläubig offen. Meine Fingernägel haben auf seinem Handrücken Abdrücke hinterlassen.
»Ich bleibe!« entscheidet er heiser.
Ich zucke mit den Schultern. Wie er will. Eigentlich ist es ja gleich. Er kann bleiben oder gehen. Ich bin sowieso allein. Das weiß ich jetzt schon.
Mitten in der dritten Wehe kommt die Hebamme, um nach mir zu schauen. Sie bugsiert mich wieder auf die Liege, schaut, tastet und horcht mit ihrem altmodischen Holzstethoskop.
»Jetzt ist es losgegangen, was?« sagt sie anerkennend. »Schon fünf Zentimeter! Besser, wir bringen Sie in den Kreißsaal!«
»Können wir den grünen haben?« fragt Paul, als wäre es von allergrößter Bedeutung, daß Vorhänge vor den Instrumenten hängen.
»Ich werde mal schauen!« meint die Hebamme entgegenkommend und verschwindet, um bald wieder zurückzukommen und zu melden, daß der Raum frei ist.
Paul will mich über den Flur stützen, aber ich bestehe darauf, allein zu gehen. Ich ziehe mich auch selbst um, nehme mit Erleichterung das Krankenhaushemd und die lockeren Unterhosen und rolle mich auf dem Geburtsstuhl zusammen, dem einzigen Aktivposten im Kreißsaal. Es ist hart für ihn, daß ich so abweisend bin. So hat er sich das in seinen softigen Tagträumen nicht vorgestellt. Aber ich habe keine Kraft, um mich ihm gegenüber noch zu verhalten. Keine Kräfte zur Versöhnung. Wenn ich das hier schaffen soll, muß ich mich konzentrieren, abschotten und nach innen wenden. Den Körper übernehmen lassen.
Die Hebamme hingegen möchte ich möglichst die ganze Zeit bei mir haben. Sie bringt Ruhe und Sicherheit mit, hilft mir beim Atmen, zeigt mir, wie ich die Maske vor den Mund halten kann, damit ich den zunehmenden Wehen mit einer lindernden Mischung aus Lachgas und Sauerstoff begegnen kann. Sie instruiert Paul, zeigt ihm, wo er mich massieren kann, und dirigiert auch seinen Atemrhythmus, damit er mir damit helfen kann.
Als meine Wut ihm gegenüber mich aus dem Rhythmus bringt und würgen läßt, und Paul sie wie ein Kind, das kurz vorm Heulen ist, ansieht, werde ich sanft zurechtgewiesen.
»Jetzt hören Sie mal, meine Liebe! Sie verschwenden viel zuviel Energie darauf, sauer zu sein! Nun entspannen Sie sich und lassen sich von ihm helfen! Irgendwann einmal müssen Sie ihn ja jedenfalls gemocht haben!«
»Es tut so weh«, jammere ich und reiße die Maske an mich.
»Das muß weh tun!« sagt sie bestimmt, während ich verzweifelt Lachgas inhaliere. »Aber es tut noch mehr weh, wenn Sie sich verkrampfen! Nun komm schon!« sagt sie und führt Pauls Hand über mein Kreuz. »Entspann dich und spür, wie gut das tut!«
Zuerst wehre ich mich so sehr dagegen, daß ich fast weine. Aber als Paul nicht nachläßt, und seine warme Hand dort liegen läßt, gebe ich langsam nach, und bei der nächsten Wehe hole ich sie mir selbst.
Die Hebamme nickt zufrieden und verläßt uns. Sie muß in das andere Zimmer.
»Zu Heidi?« bringe ich heraus.
»Ja, kennen Sie sie?«
»Ein wenig. Ist René gekommen?«
»Nein, aber eine Schwesternhelferin ist bei ihr.«
Ich verdöse den Abend. Die Stunden verstreichen monoton wie auf einer Autobahn. Ich habe aufgehört, sie zu zählen, eingesperrt in den Dunst des alles beherrschenden Schmerzes. Das Lachgas macht mich high, so daß meine Gedanken wie zufällig angeschwemmtes Strandgut in einer trüben Flut hin- und herdümpeln. Diese vielen vergessenen Bilder und Erinnerungen, die plötzlich auftauchen: Vater und Mutter, die lachend Jitterbug auf dem Wohnzimmerparkett tanzen. Die Kuh mit dem sanften Blick, die ich an einem Sommertag auf Læsø zwischen den Hörnern kraulte, bis der Ortsschlachter in Kittel und schwarzen Gummistiefeln über den Zaun kletterte und ihr eine Kugel in die Stirn schoß. Kiki, meine Schwester, schrie was von »Mörder« und »Tierquälerei« und mußte mit Gewalt entfernt werden, während ich nur mit großen Augen dastand und nicht begriff, daß das Tier nicht mehr lebte. Und ich sehe eine Schlange im Heidekraut, Blaubeeren im Glas, mich selbst auf Tante Mos viel zu großem Fahrrad und begreife, daß ich zeitweise eine glückliche Kindheit hatte.
Und auf einem Floß segelnd taucht auch der Pirat auf – der um Polynesien herumfahren will –, er hat eine Klappe vor dem Auge und einen Papagei auf der Schulter, und ich muß kichern, als ich das Sausen in den